Gleichgewichtsstörungen des werdenden Vaters

■ Nanni Moretti schreibt mit „Aprile“ sein „Liebes Tagebuch“ fort als eine Chronologie der laufenden Ereignisse, in der ein weiteres Mal Ästhetik, Politik und Privates verflochten werden

Nanni Moretti ist 44 und will nicht erwachsen werden. Oft rauft er sich die Haare, weil wieder alles schiefläuft und die Welt unvorhersehbare Zumutungen bereithält. Den Sieg Berlusconis 1994 zum Beispiel oder schlechte Hollywoodfilme. „Aprile“ ist die Fortschreibung von „Liebes Tagebuch“ – eine Chronologie der laufenden Ereignisse, in der Ästhetik, Politik und Privates verflochten werden. Drehbuch, Regie und Hauptdarsteller: Nanni Moretti.

Moretti wird Vater – und als seine Frau im dritten Monat ist, bekommt Nanni Gleichgewichtsstörungen. Er will ein Musical über einen trotzkistischen Konditor in den 50ern drehen, aber als der Dreh beginnt, bricht er ihn ab. Dann will er den Wahlkampf 1996 dokumentieren und träumt währendessen unentwegt von seinem Musical. Moretti ist der ewige Pubertierende, im Grunde ein ziemlich unerträglicher Narziß, dem selten gefällt, was er hat, und der selten bekommt, was er will.

„Aprile“ ist in seinen besten Passagen ein charmantes, selbstironisches Porträt mit einem freundlichen, sachte plätscherndem Humor, fern von nachmittäglichem TV-Exhibitionismus. Moretti redet immer nur von sich selbst, aber dieses Reden ist ein Schutzschirm um dieses Ich, ein Spiel mit Andeutungen und Verhüllungen. Auch das scheinbar Improvisierte, der Gestus des zufällig dokumentarisch Festgehaltenen ist ein Trick. Wenn man den Drehberichten trauen darf, hat Moretti eine unauffällige Szene, in der er sich mit einem Freund streitet, der einen Pasta-Reklamespot dreht, 72mal wiederholt.

So ist dieses Film-Ich wundersamerweise gleichzeitig privat und ein politisches Medium, eine Sonde, die die Ströme des öffentlichen Bewußtseins aufzeichnet. Moretti inszeniert sich als eine Art Gewissen der Linken; er leidet vor dem Fernseher, als der Chef der Linksdemokraten, D'Alema, Berlusconis Selbstdarstellungen verzagt geschehen läßt. Er interviewt albanische Flüchtlinge, nachdem ein italienisches Militärschiff ein Boot mit Flüchtlingen versenkte, 89 Albaner ertranken und kein Politiker der regierenden Linken sich dort sehen ließ. Freilich nur, um auch dort wieder auf sich selbst zu stoßen und festzustellen: „Ich bin unfähig.“

Erträglich ist diese unentwegte Selbstüberhöhung nur, weil sich der Regisseur auch über sich selbst lustig macht. So mischt er sich unter die Welterlöser, Querulanten und Prediger im Speakers Corner im Londoner Hyde Park und liest dort jene Briefe an die KP und die Linken vor, die er nie abschickte. Das ist vielleicht die schönste Szene, weil sie die Ich- und die Welt-Geste ins Bizarre wendet.

Am Ende verliert „Aprile“ an Dichte, und die autobiographische Fiktion scheint an ihre Grenze zu stoßen. Wie das Kind Morettis (Ehe-)Alltag durcheinanderwirbelt, das erfährt man nicht. Um dies zu zeigen, müßte seine Frau mehr als nur mal im Bild auftauchen. Aber das würde jene Intimität verletzen, die „Aprile“, allen Selbstoffenbarungen zum Trotz, so geschickt verbirgt.

Andererseits bleibt „Aprile“ Tagebuch. So fehlt der Formenreichtum der reinen Erzählung, die den Blick über das Ich hinaus zum Gesellschaftspanorama weiten könnte. Nicht wirklich privat werden zu wollen, nicht ganz und gar fiktiv werden zu können, das sind die Grenzen von Morettis Tagebuchkunst.

Am Ende sieht man doch noch eine Musicalszene. Eine glamouröse Choreographie, ein Tanz am Sachertorten-Fließband, eine wunderbare Szene, die Lust auf mehr macht. Schade daß Moretti diesen Film nicht gedreht hat. Stefan Reinecke

„Aprile“. Buch, Regie: Nanni Moretti. Mit Nanni, Pietro und Agata Apicella Moretti. I 1998, 78 Min.