"Ich hatte zuviel Botschaft"

■ In den Sechzigern "Highpriest of Hip", heute Attraktion beim Berliner Jazzfest: Black Poet Oscar Brown jr. über Begegnungen, Versenkungen und die Möglichkeit, zurückzukommen

taz: Sie sind jetzt 71 Jahre alt und feiern ein Comeback. Werden Jazzer nie alt und müde?

Oscar Brown jr.: Keine Ahnung. Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Aber ich bin Großvater, und tatsächlich spiele ich am liebsten zu Hause mit meinen Enkeln. Trotzdem hoffe ich, mir eine gewisse Offenheit bewahrt zu haben.

Das heißt, Sie hören morgens als erstes Radio?

Nein, ich höre keine Platten und kein Radio mehr, weil ich soviel Musik im Kopf habe. Ich war mal ein Plattensammler. Aber ich war auch ein Sammler von vielen anderen Dingen. Jetzt habe ich einfach keinen Platz mehr.

Wie gelangt die Musik in Ihren Kopf?

Erst kommt die Idee des Songs. Dann die Musik, die hilft, die treffenden Worte zu finden, oder Worte, die mehrdeutig sind. Worte, die Bilder hervorrufen. Nicht das naheliegendste oder ungefähr passende Wort, sondern das richtige. Da ich keine Noten schreiben kann, suche ich mir jemanden, der die Musik aufschreibt.

Melodie und Worte sind zuerst da?

Ja, ich singe sie vor. Das ist die erste Arbeit, dann kommen die anderen Dinge.

Man denkt dabei eher an europäische Kompositionsverfahren.

Durch einen schwedischen Freund kam ich in Berührung mit Bertolt Brecht und Lotte Lenya und ihrer Art, Dinge mit Sprache und Musik umzusetzen. So wurde ich zu jemandem, den man einen Conférencier nennen kann.

Weniger einen Jazzer?

Für mich waren Jazzmusiker immer etwas ganz Besonderes. Ich bewunderte sie, und es machte mich stolz, mit ihnen auf einer Bühne zu stehen: Miles, Dizzy Gillespie, John Coltrane. Zu der Zeit war ich schon um die 30 und sozusagen ein alter Jazzfan. Kein Jazzsänger. Ich sehe mich eben eher als Entertainer.

Wie kamen Sie zum Gesang?

Eigentlich wollte ich Schlagzeug spielen, aber es klappte nicht so richtig. Später in der Armee fanden sie heraus, daß ich ein Problem mit meiner rechten Hand habe. Nicht schlimm, aber so, daß ich weder Schlagzeug noch Geige oder Klavier spielen kann. Mir machte es schon immer Spaß zu singen. Doch erst in der Armee begann ich, mich ernsthaft mit Musik auseinanderzusetzen. Um in dem ganzen Stumpfsinn nicht verrückt zu werden.

Sie wurden in der berüchtigten South Side von Chicago geboren.

Und ich bin immer noch dort. Die Gegend war streng gekennzeichnet, es war ein Ghetto. Aber es lebten auch viele schwarze Familien dort, denen es finanziell gut ging. Ärzte, Anwälte und Geschäftsleute. Mein Vater war erst Anwalt, dann Immobilienmakler, und auch ich wollte zuerst Anwalt werden. Meine Mutter war Lehrerin. Beide haben sich immer sozial und politisch engagiert. Es ging uns gut, aber der Rassismus war immer zu spüren. Wir konnten nicht Downtown essen gehen oder einen Film sehen. Wir hatten Restaurants, Kinos und Geschäfte in unserer eigenen Community.

Waren die Clubs gut?

Wir wohnten in der Nähe des Regal-Theaters. Dort kamen jede Woche die großartigen Bands vorbei. Duke Ellington, Count Basie, Jimmy Lunceford oder Cab Calloway. Und als ich ein kleiner Junge war, konnte ich für einen Dime hinein, das sind zehn Cents. In der Zeit gab es noch kein Fernsehen, und wir sahen viel Musik und hörten viel Musik im Radio. Wir mochten auch Frank Sinatra und Glenn Miller. Wir tanzten zu allem.

Später sind Sie selbst mit den Größten aufgetreten, etwa mit Miles Davis.

Das war, als ich das erste Mal nach Kalifornien kam. Wir spielten in der Music Box, einem schönen Theater oben in Hollywood. Aber wir standen nicht zusammen auf der Bühne, sondern ich war seine Vorgruppe. Die Leute waren von unserem Programm so begeistert, daß schon nach der dritten Nacht Miles der Opener für mich war. Miles reagierte wirklich cool. Er war nicht böse oder so was. Ich weiß, daß er als schwierig galt, aber er war nie schwierig mit mir.

War John Coltrane schwierig?

Nein, aber ich verstand lange nicht, was er machte. Einmal trat ich mit Trane im Apollo-Theater in New York auf. Er war backstage und übte Skalen. Ich ging zu ihm und meinte, wir sollten versuchen, mit dem Publikum zu kommunizieren. Er sagte: „Well, Oscar, ich versuche, etwas auf meinem Sax zu finden, und nicht, die Leute zu unterhalten.“ Ich dachte, o.k., das ist cool. Er versucht, für sich selbst etwas zu finden. Später habe ich ihn beim Newport Jazz Festival gehört. Er hatte zwei Bassisten dabei, und es war großartig. Aber, wie gesagt, ich habe eine ganze Zeit gebraucht, um ihn zu verstehen.

Neben Ihren Songs haben Sie auch diverse Musicals geschrieben.

Ja, 1966 habe ich zum Beispiel zwei Shows in Chicago gemacht. Zu der Zeit waren die Zeitungen voll von Jugendgangs und Straßengewalt. Es war so gut wie unmöglich, Investoren oder Theater zu finden, die sich trauten, eine Show in der South Side zu unterstützen. So kamen wir auf die Idee, mit den Jugendlichen aus den Gangs zusammenzuarbeiten. Es gab mehrere Gangs zu der Zeit, die Vice Lords, die Watussi. Die Blackstone Rangers waren die bekannteste mit den meisten Anhängern. Ihr Hauptrevier war in einer Kirche. Als ich das erste Mal dorthin kam, waren etwa 1.000 Kids dort. Und kein Aufpasser weit und breit.

Hatten Sie Angst?

Sie wollten mich nicht reinlassen, und ich mußte erst eine Verabredung mit einem der Anführer arrangieren. Sie sagten dann, sie wären die Höllenhunde der Gesellschaft. Arm und schwarz und ohne Hoffnung. Ich bot ihnen an, eine Show in ihrer Kirche zu machen, die sie selbst organisieren konnten. Die Tickets verkaufen, mit den Zeitungen sprechen und diese Sachen. Sie sagten, daß einige von ihnen auch Talent hätten und in der Show mitmachen sollten. Da mußte ich erst mal schlucken. Aber ich sagte o.k., laßt uns sehen, was ihr habt. Und sie hatten so viel. So viel Talent. So wurde es nicht nur eine Show für sie, sondern eine Show mit ihnen. Wir bekamen jede Nacht Standing ovations. Aber es gab keine Unterstützung für dieses Projekt, weder von Politikern noch von den Kirchenverantwortlichen. Die Polizei stoppte uns, und den Zeitungen wurde gesagt, sie dürften nichts Gutes über die Show schreiben, denn diese Kids wären Gangkids. Gewalttätig. Jetzt wurde gerade eine neue, riesige Kirche gebaut, aber das Viertel ist zerstört und versinkt in Armut. Die Gang wurde aufsässig, und die Polizei wurde eingeschaltet. Einige wurden getötet und viele Häuser angezündet. Hiroshima wurde besser wiederaufgebaut. In dieser Zeit sprachen wir von der verlorenen Revolution.

Sind Sie deshalb heute ein Anhänger von Louis Farrakhan?

Farrakhan ist ein Leader, und ich teile die meisten seiner Ansichten. Der Million-Men-March war großartig, aber ich hätte mir gewünscht, daß mehr politische Aktionen damit verbunden sind. Wenn es noch einmal einen solchen Marsch gibt – und ich bin mir sicher, es wird ihn geben –, dann sollte sich diese Million Menschen einen Computer kaufen und ein Aktionsprogramm entwickeln, das ihnen und den Bedürfnissen ihrer Community entspricht und den gemeinsamen Bedürfnissen aller. Wir müssen über Satellit, Fernsehen, Radio, Schallplatten, über alle möglichen Medien weltweit in Kontakt treten, um die Kontrolle über uns selbst zu haben. Wir haben das Potential!

Wie konnte es passieren, daß von 1960 bis 1974 zehn Platten von Ihnen erschienen und danach zwanzig Jahre keine mehr?

Meine Musik und meine Art zu singen haben den Leuten immer gut gefallen, meine Platten sich gut verkauft. Es müssen also politische Gründe gewesen sein. Ich schätze, es hatte viel mit der Zusammenarbeit mit den Black Stone Rangers zu tun. Ich war ja nicht gestorben oder so. Mein Atlantic-Vertrag wurde plötzlich nicht mehr verlängert. Sie haben mich einfach fallengelassen. In den USA gibt es sechs große Plattenfirmen, die alles verwalten, was an Musik öffentlich gemacht wird. Ich war ihnen zu messagy.

Wie haben Sie überlebt?

Ich versuchte all die Jahre weiterhin, so viel wie möglich aufzutreten. Und ich arbeite als „Artist in Residence“. Das heißt, ich bekomme semesterbegrenzte Lehraufträge an Universitäten, wo ich mit Studenten Theaterstücke erarbeite.

Gab es nicht die Möglichkeit, kleine Plattenfirmen zu finden? Z. B. in London, wo Sie als Hohepriester des Hip gefeiert wurden.

Ich hatte einfach zu viele negative Erfahrungen gemacht. Die Plattenfirmen haben mit deinen Aufnahmen gemacht, was sie wollten, und es gab nie Geld. Selbst Sarah Vaughan hatte fünf Jahre lang keinen Plattenvertrag.

Auf Ihrer neuen Platte, die gerade erschienen ist, findet sich auch Ihre Variation eines Jacques-Brel-Chansons. Wie kamen Sie auf Brel?

Ich habe in Hollywood eine Show über ihn gesehen, die ein Engländer dort produziert hat, der Sohn von Rex Harrison. Ich spreche kein Französisch, und er hat mich an die Texte von Brel herangeführt, indem er sie beschrieben hat. Nach diesen Beschreibungen habe ich eine Übersetzung gemacht, und er hat sie an die Witwe von Jaques Brel geschickt. Sie war einverstanden, und so nahm ich dieses Lied zum ersten Mal auf. Es heißt „Old Lovers Song“.

Sind Ihre Texte publiziert?

Ich habe schon oft daran gedacht, aber mir fehlt die Zeit, das alles zu organisieren, mit Verlegern zu sprechen oder vielleicht selbst einen Verlag oder eine Plattenfirma zu gründen. Ich bin nun mal kein Geschäftsmann. Show Business sind zwei Worte. Aber man müßte Business Show sagen. Denn ohne das zweite geht das erstere nicht. Interview: Maxi Sickert