Im Zweifel für den Diktator

■ In den nächsten Tagen befindet das britische Oberhaus darüber, ob der chilenische Ex-Diktator Augusto Pinochet weiter festgehalten werden darf. Zwar geben sich seine Gegner vorsichtig optimistisch – doch daß dem ehemaligen Militärchef der Prozeß gemacht werden kann, ist zweifelhaft

Hier findet die Anhörung zum Fall des ehemaligen chilenischen Diktators Augusto Pinochet statt, die weitreichende Folgen für die internationale Rechtsprechung haben könnte? In dem kleinen Raum, der im Vergleich zu den prunkvollen Gängen des Londoner Oberhauses spartanisch wirkt, drängeln sich 150 Zuhörer, viele davon chilenische Exilanten und Verwandte von Pinochet-Opfern. Ein Gerichtsdiener im Frack sorgt für Manieren: „Wenn die Lordschaften den Raum betreten, stehen bitte alle auf.“

Das House of Lords ist die oberste Berufungsinstanz in Großbritannien – genauer sind es die Lords of Appeal, ranghohe Richter, die speziell für dieses Amt ins Oberhaus berufen werden. Die fünf Lordrichter müssen entscheiden, ob der Haftbefehl gegen Pinochet rechtmäßig ist.

Der ehemalige Diktator, der sich nach seinem Rücktritt 1990 zum Senator auf Lebenszeit ernennen ließ, war am 16. Oktober aufgrund eines spanischen Auslieferungsbegehrens in einem Londoner Krankenhaus verhaftet worden, wo er sich einer Rückenoperation unterzogen hatte. Inzwischen liegt der 82jährige unter Arrest. Der Londoner High Court hatte ihm vorige Woche diplomatische Immunität zugesprochen. Bestätigen die Lordrichter dieses Urteil nächste Woche, kann Pinochet nach Hause fliegen.

Staatsanwalt Alun Jones, in schwarzer Robe und weißer Perücke, argumentiert, daß Pinochet anfangs gar nicht Staatsoberhaupt war und infolgedessen auch keine Immunität genieße. Bis zur Verabschiedung der neuen Verfassung 1981 gab es „einen grauen Bereich über den Status der Militärjunta“, sagt Jones. Zwar haben die Putschisten am 11. September 1973 per Dekret ihren Coup legitimiert, doch in den Stunden zuvor seien mindestens 28 Menschen ermordet worden.

Natürlich sei er Staatsoberhaupt gewesen, sagt Pinochets Verteidiger Clive Nicholls. Schließlich sei die chilenische Militärjunta sofort von der britischen Regierung anerkannt worden, Chiles neuer Botschafter in London habe sich einen Monat später mit Papieren akkreditiert, die von Pinochet unterzeichnet waren. Am liebsten will Nicholls gar kein neues Beweismaterial zulassen, sondern den Punkt wie der High Court ausklammern. Die fünf Lordrichter, die weder Perücken noch Roben tragen, entscheiden jedoch, sich die neuen Beweise erst mal anzuhören und über die Zulässigkeit später zu entscheiden.

Im Grunde sei es egal, ob Pinochet von Anfang an Staatschef war oder nicht, sagt Jones, denn „die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darunter Folter, die Ermordung von Kindern und das Verschwinden von 4.000 Menschen“, gehörten keinesfalls zu den Aufgaben eines Staatschefs und fielen deshalb nicht unter diplomatische Immunität. Lordrichter Steyn scheint ihm zuzustimmen: Falls die Lockerbie-Bombe von einem Staatschef angeordnet worden sei, fragt Steyn, dürfe der sich später auf seine Amtspflicht berufen? „Das wäre doch ganz außerordentlich, oder nicht?“

Beim Lunch sagt Isabel Allende, die Tochter des beim Staatsstreich ermordeten Präsidenten Salvador Allende, sie sei „vorsichtig optimistisch“. Es sei ein gutes Zeichen, daß die Lordrichter Materialien von amnesty international, der Stiftung für Folteropfer sowie der Engländerin Sheila Cassidy zur Verhandlung zugelassen haben.

Cassidy war 1974 von der chilenischen Geheimpolizei DINA verhaftet worden, weil sie einem verletzten Oppositionellen geholfen hatte. „Vor 24 Jahren lag ich in der Villa Grimaldi, dem berüchtigten Verhörzentrum“, sagt sie. „Ich blutete stark, ich hatte nach den Elektroschocks große Schmerzen. Vor dem Fenster wurden 50 Männer vorbeigeführt, mit verbundenen Augen, die Hand auf der Schulter des Vordermannes. Wo sind diese Männer heute? Ich habe die Einzelhaft und die Folter überlebt, aber viele, die mit mir in der Villa Grimaldi waren, sind seitdem verschwunden.“ Es sei nun an den britischen Gerichten, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, sagt Cassidy.

Juan Pablo Letelier, Abgeordneter des chilenischen Parlaments, respektiert das britische Rechtssystem mit seinem Berufungsgericht. „Diese Institution gibt es nun mal in England“, sagt er. „Ich glaube, es ist gerecht. Ich habe nicht erwartet, daß vor dem Oberhaus Pinochets Verbrechen ausführlich zur Sprache kommen würden und die ganze Welt hört zu. Die Lordrichter sehen den Antrag auf Auslieferung offenbar nicht von vornherein feindselig. Das gibt Hoffnung.“

Leteliers Vater Orlando, der unter Allende Außenminister war, ist von der DINA 1976 in Washington durch eine Autobombe getötet worden. Es könne ja nicht legal sein, wenn ein Staatschef in einem anderen Land ein Verbrechen anordne, sagt Lordrichter Slynn of Hadley. „Genau, Eure Lordschaft“, stimmt ihm Alun Jones zu.

Es wäre ihm lieber gewesen, wenn Pinochet von einem chilenischen Gericht angeklagt worden wäre, sagt Juan Pablo Letelier, aber eine Minderheit dort wolle das nicht. „Eine Auslieferung nach Spanien ist deshalb die zweitbeste Lösung.“ Der linke Labour-Abgeordnete Jeremy Corbyn diktiert einem chilenischen Journalisten, Pinochet sei ein Mörder und krimineller Bastard. „Chile muß sich endlich Menschenrechtsfragen stellen“, sagt er. „Pinochets Verbrechen kommen nun zum ersten Mal vor einem Gericht zur Sprache. Und das ist ein Fortschritt, egal wie die Lordrichter am Ende entscheiden.“

Schon einmal, während des Malwinenkrieges, kam ein Massenmörder in Großbritannien ungeschoren davon. General Alfredo Astiz, Chef der argentinischen Mordkommandos während der Militärdiktatur, war von britischen Truppen auf den Malwinen verhaftet und nach London gebracht worden, doch die Thatcher-Regierung lehnte Frankreichs Auslieferungsantrag ab. Auch Pinochet ist ein guter Freund der früheren Premierministerin, bei seinen Englandreisen schaute er stets auf ein Täßchen Tee vorbei. Sollten die Lordrichter ihn nächste Woche laufenlassen, wird er künftig wohl keine Auslandsreise mehr riskieren, meint Isabel Allende. Ralf Sotscheck, London