Trügerisches Kunstidyll

Das brandenburgische Groß-Glienicke im Berliner Speckgürtel wächst und wächst. Doch die Zuzügler aus dem Westen stoßen nicht immer auf Begeisterung  ■ Von Heike Gläser

In dem kleinen Blockhaus an der Südspitze des Glienicker Sees, auf dem sich der wolkenverhangene Himmel spiegelt, brennt mittags Licht. Ein vom Sturm zerfurchtes Schild lockt mit Soljanka, Kaßler und Kuchen in Kreideschrift. Im Café Seeblick duftet es nach frischgebackenem Kuchen. Langsam steckt eine dicke ältere Frau ihr rundes rotes Gesicht durch die Durchreiche, die die Küche vom Gastraum trennt. Auf die Frage, ob denn geöffnet sei, antwortet sie schlagfertig „sonst wären Sie ja nicht drinnen“ und bringt schlurfenden Schrittes Kaffee und ein Stück Kirschkuchen.

Es ist, als sei man am Ende der Welt. Doch nur wenige Kilometer trennen diesen Ort von der Berliner Stadtgrenze. Sie lebe seit 1972 in Groß-Glienicke, aber das Imbiß-Café habe sie erst nach der Wende mit ihrem Mann eröffnet, erzählt die freundliche Frau im Blümchenkittel und läßt sich schwerfällig auf einen Stuhl sinken. Sie greift nach ihrer Schachtel Club-Zigaretten, rückt die Brille zurecht und heftet ihren Blick auf das Kreuzworträtsel in einer Illustrierten. „Wissen Sie, erst als die Wessis kamen, meinten die anderen im Dorf, wir sollten doch hier am See was machen, damit die Spaziergänger und Radfahrer etwas essen oder eine Tasse Kaffee trinken können.“ Ihr Mann wollte eine Imbißbude in das Waldstück stellen, doch sie war dagegen. Das gehe doch nicht, in dem schönen Laubwald eine Bude aufzustellen. „Dort, wo Sie jetzt auf den See blicken“, sagt sie, „konnte man vor der Wende nichts sehen, da stand nämlich die Mauer.“

Plötzlich bekommt der Name dieses schrulligen Blockhauses, das sich Café Seeblick nennt, einen Sinn. Der Glienicker See war vor der Wende längs geteilt. Paradoxerweise gehörte das Westufer zum Osten, der ehemaligen DDR, das Ostufer zu Westberlin. Auch heute noch sind die beiden Gemeinden von Groß-Glienicke verwaltungstechnisch getrennt: Die eine Hälfte gehört zu Spandau, die andere zu Potsdam-Mittelmark.

Der brandenburgische Teil, einst ein 600-Seelen-Dorf, liegt im Speckgürtel. Heute leben mehr als 2.000 Einwohner in dem kleinen Ort. Es sind nicht nur Westberliner, die es ins Grüne treibt. 1990 kamen Westdeutsche von Bayern bis Schleswig-Holstein, um Rückgabeansprüche geltend zu machen. Die Spuren sind sichtbar: Vom Café führt ein schmaler Asphaltweg, auf dem zu DDR-Zeiten die Grenzpatrouillen fuhren, am See entlang. Die spärlich belaubten Birken lassen den Blick frei auf die Seevillen am Ufer – jede zweite ist unbewohnt und baufällig.

„Das ist eine ausgewachsene Verwahrlosung“, echauffiert sich Erna Oldenthal*, die seit 46 Jahren in Groß-Glienicke lebt. Die Wessis lassen ihr zurückerhaltenes Eigentum verkommen. Das bringt die Alt-Glienicker doppelt in Rage. Achtzig Prozent Groß-Glienickes sind inzwischen in westdeutschem Besitz.

Auch Erna Odenthal mußte ihr altes Haus an der Seepromenade nach mehr als vierzig Jahren verlassen, als die West-Eigentümer ihren Anspruch geltend machten: „Zunächst wußten wir gar nicht, was auf uns zukommt. Dann kam die Angst, nicht zu wissen, wie es weitergeht.“ Inzwischen ist sie enttäuscht und wütend. Die Gesetze sprächen alle für die Westdeutschen. „Wenn ich vor Gericht gegangen wäre, hätte ich nur mein gesamtes Geld verloren“, meint sie bitter.

Es ärgert Odenthal, daß sich die meisten neuen Eigentümer noch nicht mal um die Sanierung der Häuser kümmerten. Der Dachstuhl eines Hauses am See ragt wie ein Skelett in den regengrauen Himmel, die Dachziegel sind abgefallen, die Fenster haben keine Scheiben, der Putz schält sich vom Gemäuer. Auf dieses Grundstück und die inzwischen abrißreife Villa hätten sich 54 Erben gemeldet, erzählt Odenthal. Bis die Eigentumsverhältnisse geklärt sind, wird sich hier nichts ändern.

Die 76jährige Rentnerin wohnt heute in der 1993 fertiggestellten Neubausiedlung nahe der Seepromenade, die für die Alt-Glienicker gebaut wurde. „An der Kirche“ nennt sich nicht etwa eine verwunschene Gasse in der Nähe der alten Dorfkirche, sondern ein Baukomplex mit rund 220 neuen Wohnungen. Wie auf dem Reißbrett reiht sich eine Häuserschlucht an die andere, mal in mediterranem Backstein, mal in rustikal anmutendem Holz. Ein Vorgarten schmiegt sich an den des Nachbarn. Eine künstlich inszenierte Idylle.

Das Areal gleicht einem Labyrinth, zumindest wenn man eine bestimmte Hausnummer sucht. „Ja, es ist fast unmöglich, sich hier zurechtzufinden“, meint ein joggingbehoster Mittvierziger apathisch, und schlendert mit seinem kleinen Hund um den Block. Erna Odenthal bezog vor vier Jahren eine der schicken Dachwohnungen dieser Siedlung. Eigentlich sollten es Sozialwohnungen werden für die Alt-Glienicker, die ihre Häuser verlassen mußten. Doch die Mietverträge haben einige Haken: Staffelmieten und hohe Nebenkosten etwa. Viele Mieter wissen daher nicht, ob sie sich das noch lange leisten können. Kaum überraschend, daß Berliner Ministerialbeamte oder Lehrer fast jede zweite Wohnung gekauft haben.

Rund um die Siedlung prangen Plakate mit Werbung für Eigentumswohnungen, Doppelhaushälften und Reihenhäuser. Die LEG Wohnen, die auch die Hausverwaltung des Neubaukomplexes unter sich hat, wirbt mit Besichtigungsterminen für „das märkische Haus“, das für eine halbe Million zu haben ist. Die Zielgruppe: finanzstarke Westdeutsche.

Zusammen mit Gleichgesinnten hat die aktive 76jährige Rentnerin einen Mieterbund gegründet, denn „wir müssen uns ja wehren, wenn die Wessis kommen“. Sprach's und verschwand, als ob der Neubaukoloß sie verschluckt hätte.

*Name von der Redaktion geändert