„Die Kanonen waren für mich eine Sensation“

Der heute 89jährige Walter Moos erlebte als Kind die Revolution im November 1918 in Berlin. Seine Mutter versuchte mit Näharbeiten die Familie zu ernähren. Er selbst ärgerte sich eher über den durch Barrikaden verstellten Weg zum Milchladen und hatte Angst vor Blindgängern  ■  Von Philipp Gessler

„O Tannenbaum, o Tannenbaum/ der Kaiser hat in' Sack gehaun/ Auguste muß Kartoffel schälen...“ Wie ging das Lied weiter? Walter Moos sitzt auf seinem roten Polstersofa, neben sich das Neue Deutschland, und weiß es nicht mehr. Vor 80 Jahren hat er das Lied mit Kumpels in Lichtenberg gesungen, das weiß er noch, damals, als der Kaiser abgedankt hat. Denn er war „zufrieden, daß der Hund weg war“.

Wilhelm II. hatte dem neunjährigen Stepke den Vater gestohlen, Walters Vater war Metallfacharbeiter und kam 1916 an die Front, wo er nach vier Tagen an Nierenversagen starb. Nach Jahren des Schlachtens wollten die Männer nicht mehr sinnlos sterben, der Krieg war verloren. Marine-Soldaten meutern Anfang November 1918. Sie wählen in Wilhelmshaven und Kiel Arbeiter-und-Soldaten- Räte. Das ist die Revolution. Im Sturm erfaßt sie das ganze Reich.

In Berlin strömen am Morgen des 9. November riesige Demonstrationszüge von den Arbeitervierteln in die Innenstadt. In der Reichskanzlei an der Wilhelmstraße erhält der Reichskanzler Prinz Max von Baden die nur inoffizielle telefonische Auskunft, daß der Kaiser zurücktreten wolle. Wilhelm war kurz zuvor nach Belgien zu seiner Generalität gefahren – oder geflohen. Der Prinz gibt die Nachricht heraus: Der Kaiser hat auf den Thron verzichtet.

Nun rennt die Zeit: Eine fünfköpfige Delegation von Reichstagsabgeordneten der Mehrheitssozialdemokratie (MSPD) betritt des Prinzen Büro, um ihn zum Rücktritt aufzufordern. Der ist dazu bereit, schlägt prompt Friedrich Ebert, neben Philipp Scheidemann Vorsitzender der MSPD, vor, Reichskanzler zu werden. Ebert zögert, denn dieser Weg entspricht nicht der Verfassung, doch Scheidemann, der dabei ist, flüstert ihm zu: „Ach was, sag einfach ja.“

Ebert will schnell Wahlen zu einer Nationalversammlung – Radikale dagegen eine Räterepublik wie bei der Oktoberrevolution in Rußland vor einem Jahr. Führend unter ihnen: Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, Ex-Sozialdemokraten, die jetzt dem „Spartakus- Bund“ angehören, aus der die KPD hervorgeht. Scheidemann schaltet am schnellsten. Vor einer Menschenmenge auf dem heutigen Platz der Republik proklamiert er gegen 14 Uhr, vor einem Fenster des Reichstags stehend: „Das Alte und Morsche, die Monarchie, ist zusammengebrochen ... Es lebe die Deutsche Republik!“ Liebknecht ruft erst gegen 16 Uhr „die freie sozialistische Republik Deutschland“ aus. Er spricht vom Balkon über dem Portal des Stadtschlosses – beim Abriß des Schlosses unter Walter Ulbricht blieb dieser Schloßteil erhalten. Der Balkon ist noch heute am ehemaligen DDR-Staatsratsgebäude zu sehen. Davon konnte der kleine Walter nichts wissen. Und seine Mutter, die in einer Rüstungsfabrik arbeitete und nur elf Mark Waisenrente im Monat für ihren Sohn bekam, hatte andere Sorgen. „Schmalhans war Küchenmeister“, kommentiert Walter Moos die Not von damals. Um den Sohn durchzubringen, näht seine Mutter in Heimarbeit Hosen für fünf oder zehn Pfennig, oft bis Mitternacht. Ein „Schlafbursche“ übernachtet in der Wohnung, ein Junge, dessen Eltern dafür bezahlten, daß er irgendwo unterkommt. So muß die Mutter in der Küche auf einem Feldbett schlafen, das sie jeden Morgen zusammenklappt.

Daß die Revolution noch lange nicht vorbei ist, merkt Walter eines Tages im Winter 1918/19, als er in einem Mülleimer einen alten Marmeladeneimer voller Patronen findet, versteckt von einem Revolutionär. Das Schwarzpulver nimmt er aus den Hülsen, um daraus ein Feuerwerk zu machen. Auch als Hüllen für Knallfrösche funktionieren leere Patronen famos.

Richtig knallen tut es jedoch auf den Straßen Berlins. Zwar hat ein Kongreß aller Arbeiter-und-Soldaten-Räte Mitte Dezember den von Ebert ins Leben gerufenen „Rat der Volksbeauftragten“ als provisorische Reichsregierung anerkannt – aber diese Konstruktion ist brüchig. Schon Weihnachten 1918 rebelliert eine Division von Matrosen, untergebracht im Marstall, der heutigen Stadtbibliothek gegenüber des Staatsratsgebäudes. Erstmals kämpfen daraufhin Regierungs- gegen Revolutionstruppen. Knapp 70 Soldaten fallen.

Und das war erst das Vorspiel: Vor den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 versuchen Arbeiter und Soldaten, gelenkt von der KPD, den Sturz der Regierung Ebert. Diesen „Spartakus-Aufstand“, bei dem zeitweise ganz Berlin in der Hand der Putschisten ist, schlägt der Volksbeauftragte Gustav Noske nieder.

Mit dem Spruch „Einer muß ja den Bluthund machen“, setzt er im Namen der Regierung von der Front heimkehrende Truppen ein, viele als „Freikorps“ organisiert, die meist nur ihrem direkten Führer folgen. „Straße frei, Fenster zu, runter vom Balkon!“, mit diesem Ruf zogen sie in Berlin ein, wie sich Walter Moos erinnert. Das ganze Viertel hätten sie „terrorisiert“.

Auf dem Wismarplatz, nahe der Seumestraße, wo Walter wohnte, hatte ein Dreimanntrupp in Feldgrau ein Geschütz aufgestellt, das Pflaster aufgerissen, um die Kanone zu verankern. Dies diente als „Instrument der Einschüchterung“, meint Moos heute, „aber für mich war es eine Sensation.“ Unangenehm war nur, daß er jetzt über Zäune klettern und durch mehrere Hinterhöfe laufen mußte, um vom Laden gleich um die Ecke Milch zu holen. Und eines weiß er auch noch genau: Wieviel Angst er vor „Blindgängern“ hatte. Als er davon zum ersten Mal hörte, floh er voller Angst in einen Hausflur, um sich dort zu verstecken: „Ich dachte, so ein Blindgänger rast rum und sucht einen.“

Schnell gefunden haben Noskes Truppen Liebknecht und Luxemburg. Eine Soldateska ermordet die Kommunisten hinterrücks. Die Regierungstruppen richten in Berlin ein Blutbad an. Die Revolution tritt in ihre radikale Phase ein, die auch durch die Wahlen nur kurz unterbrochen wird, obwohl bei ihnen die gemäßigten Kräfte wie SPD und bürgerliche Parteien die Mehrheit errangen. Immer wieder kommt es 1919 zu Kämpfen: am schlimmsten Anfang März, als Noske einen Aufstand in Berlin niederschlägt. Am Ende zählt man rund 1.200 Tote.

Als im Sommer 1919 die Revolution ausläuft, mischt sich Walter bei der Beerdigung Rosa Luxemburgs in den Trauerzug auf der Frankfurter Allee. Seit Februar 1953 wohnt der gelernte Maschinenschlosser Walter Moos in den stalinistischen Prachtbauten der heutigen Karl-Marx-Allee, immer in derselben Wohnung. Von hier beobachtet er am 17. Juni 1953 auch den Aufstand der Arbeiter der Stalin-Allee gegen das SED- Regime. Ein „Putsch“ sei das gewesen, meint Walter – und es liegt wohl auch an der verkorksten Revolution von 1918/19, wenn es schwerfällt, ihm da sofort zu widersprechen.