■ Rot-Grün an der Macht (2): Wir, die Linken, sind am Ruder, tönt es überall. Aber dieses „Wir“ ist bloß eine magische Propagandaformel
: Wir sind wieder wer

„Wir sind der Auffassung, daß der Skinhead-Stil einen Versuch darstellt, über den ,mob‘ die traditionelle Arbeitergemeinschaft als Ersatz für ihren tatsächlichen Niedergang wiederzubeleben.“

John Clarke schrieb diesen Satz nicht über das Deutschland der Gegenwart, sondern über das England der späten Sechziger. Er stammt aus einem Standardwerk der Cultural Studies mit dem sprechenden Titel „Die Skinheads und die magische Rückgewinnung der Gemeinschaft“. Magisch bis manisch arbeiten derzeit Angehörige gehobener Gesellschaftsschichten an der Rückgewinnung einer verlorenen Gemeinschaft. Rot-Grün in Bonn stellt für sie den Versuch dar, über den tribe die traditionelle Linke als Ersatz für ihren tatsächlichen Niedergang wiederzubeleben.

„Unsere Leute, die aussichtslosen, querulatorischen, chaotischen alten Linken, sind plötzlich ganz oben. Nicht ohne Stolz sehen wir sie, die Holz von unserem Holze sind, in der ,Tagesschau‘, wo sie, nicht mehr im Pullover, sondern in Anzug und Kostüm, einen tadellosen Eindruck machen.“

So die Bremer Hochschullehrerin Sibylle Tönnies, die es – querulatorisch hin, chaotisch her – immerhin zur tadellosen FAZ- Schreiberin gebracht hat, in der taz am Reformationstag. Im pluralis majestatis der Selbstermächtigung kommt ihre Durchhalteprosa daher, eine Gratwanderung zwischen Coming-out-Ermutigung und Comeback-Drohung: „Wir dürfen uns nicht mehr genieren, staatstragend zu sein.“ Und: „Wir alten Linken sind erst jetzt so richtig erwachsen geworden.“

Mal abgesehen davon, daß man sich angesichts einiger grüner Anzüge und Kostüme glatt die Sonnenblumen, Birkenstock- & Wickelrock-Exzesse der Petra-Kelly- Family zurückwünschen möchte: Für solche Texte sollten keine Bäume sterben. Blöderweise aber ist Tönnies kein Einzelfall. Der Plural ist Symptom. In ihren Kreisen wird magisch die Gemeinschaft zurückgeklont, es wird wieder wir gesagt statt ich.

„Wir sind wieder wer“, und „wir sind stolz auf unser Holz.“ „Holz“ darf in diesem Emo-Diskurs getrost als ökologische Softcore-Variante von „Blut“ gelesen werden – nein, nicht völkisch, mehr so volkstümelnd plappernd: Wir Vollblutlinken von altem Schrot und Korn, Lefties by nature und so...

„Wir alten Linken“ – das ist neuerdings wieder eine fehdehandschuhartig benutzbare anthropologische, ach was: ontologische Konstante. Tönnies & Co. greifen damit eine rhetorische Figur auf, die im eigentlichen Machtzentrum der Grünen seit 30 Jahren zur Grundausstattung des Jargons der Sponti-Eigentlichkeit gehört. Wie oft pulverisierte ein von großer Geste begleitetes „Wir“ in den Reden der Frankfurter Sponti- Stars Cohn-Bendit und Fischer politische Zweifel und stiftete statt dessen eine magische, tribalistische Gemeinschaft wider Wissen?

Und jetzt, nach all den Jahren der Resignation und des Privatisierens, die noch in jedem dieser Comeback-Texte larmoyant beweint werden, jetzt finden „wir“ plötzlich im Fernsehen statt. Der Topos „wir“ wird mit dem Topos „links“ kurzgeschaltet, und schon existiert auf höchster Ebene, was im richtigen Leben längst erledigt war: „Linke Politik“, von „uns“.

Rot-Grün funktioniert für die ex-linken Massen als Politiksurrogat. Am Bildschirm verfolgen sie ihre Genossen von einst und begutachten mit teilnehmender Skepsis, wie sich unsere Leute auf deren Terrain bewegen. Oder verfolgen die Entwicklung ihres grünen Teams gleich wie der TV-Fußballfan: Daumendrücken, Fachsimpeln, Couchpotato-Politics.

„Wo wir sind, ist links“, oder mit den Worten Joschka Fischers: „Ich bin ein Linker und werde es immer sein.“ Ein spezifischer Jargon der Eigentlichkeit regelt den rot-grünen Machtdiskurs. Wenn wir hören, daß Fischer bei seinen Antrittsbesuchen „bewußt auf Wendesignale verzichtet hat“, daß Trittin „bewußt die Kontinuität der Umweltpolitik betont“, dann unterstellen wir, subversionsgeschult & augenzwinkernd, mit vorauseilendem Einverständnis, daß die anderen schon noch sehen werden, daß unser Eigentliches ja noch kommt, daß Joschka und Jürgen eigentlich Wölfe im Schafspelz sind, die zu gegebener Zeit den harten linksradikalen Knüppel rausholen werden. „Von unserem Holze.“ Und noch mal die Genossin Tönnies: „So grau uns alten Linken die Locken auch geworden sind – wir müssen uns umstellen.“

Graue Haare kommen, graue Zellen gehen. Naturgesetze machen auch vor Grünen nicht halt, zumal vor solchen, die Schwarz- Grün schon mal antizipiert haben. „Einer von uns wird Außenminister“, zitiert die FR den ehemaligen grünen Stadtkämmerer unter CDU-Führung. Tom Koenigs, der einst – so seine Lebenslegende – sein Millionenerbe dem Vietcong überließ, fühlt sich nach dem Wahlsieg wie damals bei „der Freude über die Nachricht, daß der Vietcong gewonnen hat“.

Unterdessen absolviert sein Ex- WG- und heute Parteigenosse Fischer seinen Antrittsbesuch bei Bill Clinton, dem Nachfolger von Kennedy, Johnson und Nixon, die weite Teile Vietnams mit Agent Orange auf Jahrzehnte unbewohnbar machten, die vietnamesische Zivilbevölkerung mit Napalm bombardierten.

Einer von uns.

Wir: Fischer ist der erste Vizekanzler, mit dem ich unmittelbaren Körperkontakt hatte und mittelbar Körpersäfte ausgetauscht habe. Tritte beim Fußball, Sex mit denselben Frauen. Heute zeigt Bild „Joschkas Neue“, wie immer Ende zwanzig, und in Frankfurt partizipieren symbolisch einige von Joschkas „Alten“ an der Boulevardrelevanz. Wieder verklärt sich die Erinnerung an radikalere (Körper-)Politiken zu einer milden Selbstzufriedenheit über das Erreichte.

Verkörpern nicht die zehn (Ex- )Gattinnen der drei Bonner Anführer auf höchster Repräsentanzebene den längst durchgesetzten State of the art in sexual politics? Nicht mehr Tod der Familie durch subversive Promiskuität, sondern sukzessive Modernisierung und Flexibilisierung der Familie durch serielle Monogamie.

Der vernünftigste Kommentar zu Rot-Grün kommt von einem, der schon die Studentenbewegung auf der anderen Seite der Barrikade erlebte, also seine Gegner kennt. Kurt Biedenkopf, einst Rektor der Ruhr-Universität, hat in dankenswerter Klarheit grüne Perspektiven aufgezeigt. Die SPD übernehme jetzt – it's a nicht mehr so dirty job, but someone's gotta do it – den Job, die Grünen zu domestizieren. In ein paar Jahren sei das eine ganz brauchbare ökoliberale Partei, reif für schwarz-grüne Koalitionen. Klaus Walter