Auf „Mitch“ folgen Seuchen

Der tropische Wirbelsturm in Mittelamerika hat bis zu 15.000 Tote und 1,5 Millionen Obdachlose zurückgelassen. Die Überlebenden befürchten ein Chaos  ■ Aus San Salvador Toni Keppeler

Langsam senkt sich der Wasserspiegel in den Überschwemmungsgebieten Zentralamerikas. Doch die Probleme spitzen sich zu. In Honduras und Nicaragua, den beiden am meisten betroffenen Ländern, befürchten die Behörden Hungerunruhen. „Wenn der Magen vor Hunger schmerzt, werden wir nicht nur eine Lebensmittelkrise haben“, sagte Calvin Weddle, Vizepräsident des honduranischen Parlaments, am Donnerstag voraus. „Dann werden wir auch eine Kriminalitätskrise haben. Jeder, der sein Kind vor Hunger weinen sieht, wird zu allem bereit sein.“

Und Mario Chinchilla, Oberstaatsanwalt für Verbraucherschutz, warnte: „Wir müssen aufpassen, daß das Land nicht in eine totale Unregierbarkeitskrise fällt.“ Um Plünderungen vorzubeugen, hat Präsident Carlos Roberto Flores bereits zu Wochenanfang eine vierzehntägige nächtliche Ausgangssperre verhängt. Sie wird massenhaft durchbrochen. Die Polizei nahm in den ersten Nächten in der Hauptstadt Tegucigalpa Hunderte von Verdächtigen fest.

Auch in Nicaragua staut sich Unmut an. Bereits am Mittwoch wurde in der Gemeinde Ciudad Delgado das Rathaus stundenlang von Hochwasserflüchtlingen belagert, die sich über eine ungerechte Verteilung der Hilfslieferungen beschwerten. In Managua warf ein Sprecher des Roten Kreuzes Präsident Arnoldo Aleman völlige Unfähigkeit vor. Der Mann habe „keine Ahnung, wie man mit einer solchen Katastrophe umzugehen hat“. Aleman warf inzwischen das Handtuch und gab die Koordinierung der Rettungs- und Hilfsaktionen an die katholische Kirche ab. Diese, so Leóns Bischof Bosco Vivas, habe „2.000 Jahre Erfahrung mit solchen Dingen“.

Zumindest kurzfristig sind in allen vom tropischen Unwetter „Mitch“ getroffenen Ländern genügend Lebensmittelreserven vorhanden. Das Problem ist die Verteilung der Hilfsgüter. So ist zum Beispiel die honduranische Hauptstadt Tegucigalpa noch weitgehend vom Umland abgeschnitten. In der Stadt selbst werden nicht nur billige Lebensmittel knapp. Es fehlt an Trinkwasser. Große Teile des Versorgungsnetzes sind zusammengebrochen. Keine zwanzig Prozent der Bevölkerung verfügen über Leitungswasser.

In den Notunterkünften breiten sich Krankheiten seuchenartig aus. Nothelfer berichten von Malaria, Durchfall, Atemwegserkrankungen und Bindehautentzündungen. Betroffen seien vor allem die Kinder. „Die Lage ist äußerst kritisch“, sagte der honduranische Gesundheitsminister Marco Antonio Rosa am Donnerstag. „Innerhalb einer Woche können wir Epidemien im ganzen Land haben.“

Besondere Gefahr geht nach der Einschätzung des Gesundheitsministeriums von einer riesigen Wasserlache aus, die sich im Zentrum von Tegucigalpa gebildet hat. In der übelriechenden Kloake schwimmen Teile menschlicher und tierischer Leichen. Die in den vergangenen Tagen aufgefundenen Toten können meist nicht mehr identifiziert werden. Viele sind von Tieren angefressen worden. Hunderte von Leichen wurden bereits in Massengräbern verscharrt oder verbrannt, um Epidemien vorzubeugen. Eine Lagerung der Toten bis zu ihrer Identifizierung sei nicht möglich, weil das Leichenschauhaus von Tegucigalpa weggespült worden ist, hieß es im Justizministerium.

Bis zum Donnerstag abend hat das tropische Unwetter „Mitch“ in den vergangenen zehn Tagen zwischen 10.000 und 15.000 Todesopfer gefordert, die meisten davon in Honduras und Nicaragua. Mehr als 1,5 Millionen Menschen wurden obdachlos. Der wirtschaftliche Schaden bewegt sich nach Schätzungen zwischen 2 und 5 Milliarden US-Dollar.