Umjubelte Zivilisierung des Lausbubentums

■ „Tom Sawyers Abenteuer“ hatten jüngst im Waldau-Theater Premiere

Badend in seligsten Kindheitserinnerungen begab sich der unverbesserliche Misanthrop Dr. Blohm ins neueste Kinderstück des Waldau-Theaters und weinte am Ende bitterlich über den Bewußtseinsstand heutiger Kinder: Statt sich mit Lausbuben-Revolutionärsromantik für den Klassenkampf zu wappnen, freuen sie sich harmlos über nette Unterhaltung und gar manchen Lug und Trug.

Voss: Herr Blohm, nun warten Sie doch!

Blohm: Ich habe genug. Nicht nur, daß ein ohrenbetäubendes Gekreisch herrschte, der Kaffee in der Pause schlicht lausig war, ich mußte auch noch die Demontage einer lieben Jugenderinnerung ertragen.

Voss: Fanden Sie es so schlecht?

Blohm: Wie soll ich es finden, wenn ein Baumstamm aus der einen Szene erst am Beginn der nächsten Szene von der Bühne gezogen wird? Was soll ich dazu sagen, wenn der Doc ein Kreuz aus der Friedhofserde zieht, um einen Halunken damit zu prügeln, und am Kreuz hängt anstelle von Erde ein grüner Lappen billigen Kunstrasens? Soll ich mich an einer Regie erfreuen, die sich nicht einmal traut, den Doc auf der Bühne erstechen zu lassen? An Schauspielern, die die einfachste Form der Kampfszene nicht ansatzweise glaubhaft darzustellen vermögen?

Voss: Sie dürfen nicht vergessen, daß das eine Aufführung für Kinder ist!

Blohm: Ich dachte, die seien so besonders kritisch. Davon konnte wohl kaum die Rede sein. Es reichte schon, daß das Licht kurz ausging, ein Blitz und ein Tonbanddonner, und ein Geschrei erhob sich, das mich nur noch tiefer in den Sessel drückte. Es schien auch niemanden außer mir zu stören, daß Tom Sawyer von einer Frau dargestellt wurde. Das war die Karikatur eines mutigen, grenzensprengenden Tom Sawyer. Den Gören ging nicht einmal auf, wie sehr ihr Gekreische von der Regie genauestens vorausgeplant wurde. Gar nicht zu reden davon, daß, kaum hat der Herbst so richtig begonnen, die Kinder schon auf Weihnachten geeicht werden sollen.

Voss: Den Kleinen hat es anscheinend gefallen.

Blohm: Und wie! Nicht nur die technischen Unzulänglichkeiten waren ihnen egal. Es war ihnen auch egal, für wen sie gerade kreischten. Sie hätten glatt Tom und Huckleberry an Indianer Joe verpfiffen, der die beiden immerhin umbringen wollte. Nur gut, daß der in diesem Moment das Publikum nicht hören konnte.

Voss: Vielleicht haben die Kleinen eben noch kein ausgeprägtes Gefühl für Recht und Gesetz.

Blohm: Das wäre ihnen in der Tat kaum vorzuwerfen. Aber sich deswegen mal für die eine, ein paar Minuten später für die andere Seite agitieren zu lassen, um per Akklamation für des Halunken Ergreifung zu johlen, das riecht doch stark nach einer Indifferenz. Die zeichnet allerdings auch das Ende des Stücks aus.

Voss: Aber es gab Zugaberufe. Das bedeutet doch, daß sich die Kinder amüsiert haben.

Blohm: Sicherlich. Aber wenn Sie darüber nachdenken, ist der Wunsch nach Zugaben bei einem Theaterstück doch unsinnig, es sei denn, es hätte die Klientel nach ein wenig mehr an Indifferenz gelüstet. Ich bitte Sie! Der arme Huck Finn bleibt ja förmlich in der Luft hängen. Zwar wird er dem Kinderheim entrissen, aber der drakonisch alle Freiheitsträume unterdrückenden Tante Polly unterstellt. Ich darf daran erinnern, daß diese Tante ihre Zöglinge mit Arbeitsdiensten diszipliniert. Und der Schatz, den die beiden gefunden haben, geht dann für etwas so langweiliges wie eine gute Erziehung drauf. Wo doch Tom Sawyer nichts anderes will, als ein Pirat zu werden...

Voss: Gerade Sie müßten den Wert einer guten Ausbildung kennen, lieber Doktor.

Blohm: Es riecht zu schwer nach Moralin. Die lieben Kleinen hatten aber auch daran nichts auszusetzen, was entweder auf Apathie oder einen bedauerlichen Mangel an Phantasie schließen läßt.

Voss: Letztere hatten die Kleinen zumindest, wenn es darum ging, mich mit Tic-Tac-Bonbons zu beschießen.

Blohm: Das stimmt. Da entwickelten sie sogar eine Treffsicherheit, die ich mir auch bei der Bewertung von Theaterstücken wünschte. Aber ich möchte mich jetzt empfehlen. Ich brauche dringend etwas Ruhe.

Belauscht von A.Schnell

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