Nach der Havarie: Neue Mannschaft, alter Kurs

Mit Rita Süssmuth findet die Reform der CDU ein weiteres prominentes Opfer. Der erste Bundesparteitag nach dem Desaster vom 27. September wählt eine neue Führung, doch das Konzept des Oppositionsführers Wolfgang Schäuble trägt noch die alte Handschrift  ■ Aus Bonn Dieter Rulff

439 – eine Zahl, die das Ende einer Politikerkarriere einläutet. „Auf Frau Süssmuth entfallen 439 Stimmen“, tönt vom Podium des 11. CDU-Bundesparteitages eine Stimme wie ein Fallbeil. Das sind weniger als die Hälfte der Delegierten. Rita Süssmuth hat damit den Einzug ins Präsidium der CDU im ersten Wahlgang nicht geschafft.

Das Ergebnis ist niederschmetternd, doch auch nicht hoffnungslos: Von den zehn Aspiranten erreichen nur drei im ersten Wahlgang das erforderliche Quorum. Der Vormann des Arbeitnehmerflügels, Rainer Eppelmann, scheitert genauso wie sein Gegenspieler von der Mittelstandsvereinigung, Peter Rauen, obgleich beider Vereinigung doch jeweils knapp ein Drittel der Delegierten stellt. Auch der saarländische CDU- Vorsitzende Peter Müller bleibt auf der Strecke, obgleich er sich als „Junger Wilder“ zu den Erneuerern zählen darf. Erst im zweiten Durchgang werden Eppelmann, Rauen und Müller den Sprung schaffen.

Etwas stimmt nicht mit dem Parteitag, der sich bis zu diesem Wahlgang so geräuschlos auf die Ära der Opposition einstimmen ließ. Der Parteitag votiert nicht, wie er soll, er votiert aber auch nicht anders. Er läßt die Kandidaten einfach durchfallen. Während Rita Süssmuth in der ersten Reihe umringt von ihren Getreuen sinniert, ob sie nochmals antreten soll, findet Matthias Wissmann eine erste einleuchtende Erklärung für das Phänomen. „Die Zeit des Strippenziehens ist vorbei“, grinst der ehemalige Verkehrsminister. Das Kungel-System zwischen den einzelnen Landesverbänden funktioniert nicht mehr. Die Methode „Stimm' du für meine Kandidaten, stimm' ich für deine“ hat versagt. Für die CDU kommt das fast einer Kulturrevolution gleich. Nichts ist mehr sicher, kaum noch etwas gewiß. Wissmann frohlockt über soviel „Aufbruchwillen“. Beifälliges Nicken auch beim herbeischlendernden Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe. Der kommt aus dem kleinen Hamburger Landesverband und wurde trotzdem von 80 Prozent der Delegierten zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt. Auch Wissmann tritt das Amt des Schatzmeisters mit einem respektablen Ergebnis an. Beiden steht die Erleichterung im lachenden Gesicht geschrieben.

Wieso der Wille zur personellen Veränderung vor ihnen, die sie jahrelang unter Kohl gedient haben, haltgemacht hat? Die Frauen hätten ihn gewählt, aus Mitleid, flachst Rühe. Die naheliegendere Antwort sitzt oben auf dem Podium und schaut ob des unerwarteten Ablaufs des Parteitages mürrisch drein. Wolfgang Schäuble hatte im Vorfeld mit harter Hand dafür gesorgt, daß sich nur soviel Kandidaten für die enge Parteispitze fanden, wie Plätze vorhanden waren. Norbert Blüm, einer der vier designierten Partei-Vizes, ist trotzdem nur mit gerade mal 60 Prozent der Stimmen auf den Stellvertreterposten geschrammt.

Immerhin ist ihm das Schicksal einer Rita Süssmuth erspart geblieben. Die erzielte im zweiten Wahlgang mit 383 Stimmen ein noch schlechteres Ergebnis als im ersten. Ihre Mundwinkel senken sich zur Waagerechten als es verkündet wird, die Augen verdunkeln sich hinter den schweren Brillengläsern, ihre Schulter spannt sich unter dem freundlichen Streicheln Angela Merkels, die kaum zwei Stunden zuvor zur neuen Generalsekretärin der Partei gewählt worden war. Doch der Trost erreicht Rita Süssmuth nicht mehr. Sich einer erneuten Wahl, diesmal für den Vorstand, zu stellen, lehnt sie ab. Sie erhebt sich und verläßt schnellen Schrittes den Parteitag.

Schäuble bedauert zwar im Fall Süssmuth das Ergebnis, erkennt aber einen „durchgängigen Trend“. Der Wille zur Erneuerung sei stärker als gedacht. Der Wille speist sich gleichermaßen aus der Angst, im Dreizig-Prozent-Turm gefangen zu bleiben, und aus der Erfahrung der ersten Oppositionsära der CDU. Damals, 1969, hat die Union drei Jahre lang Wunden geleckt, bevor sie sich, zunächst personell, erneuerte. Erst 1973 wurde mit der Wahl des jungen Helmut Kohl zum Parteivorsitzenden eine Erneuerung eingeleitet.

So atemberaubend ist die personelle Erneuerung auf diesem Parteitag, daß sich die Frage, wofür sie steht, von selbst zu beantworten scheint. Eine Debatte darüber findet nicht statt, dafür ist ein weiterer Parteitag vorgesehen. Was der neue Vorsitzende Schäuble in seiner Rede an Antworten gibt, läßt die Zähigkeit des Alten erkennen und das noch Ungewohnte der Oppositionsrolle spüren.

Gerade so, als habe er nicht erst vor wenigen Tagen ehemalige PDS-Mitglieder für aufnahmewürdig erklärt, dreschen er und seine Generalsekretärin Angela Merkel auf die rot-rote Koalition in Mecklenburg-Vorpommern ein. Die PDS könne man nicht durch Hofieren eindämmen, sondern nur durch schonungslosen Kampf. Gerade so, als hätten beide nicht die Grünen für potentiell bündnisfähig erklärt, attackieren sie die rot- grüne Koalition. Nur schemenhaft deutet er an, wohin die Reise der CDU gehen soll.

Von unten, aus den Kommunen und dann aus den Ländern heraus, soll die Partei wieder erwachsen. Das Gemeinwesen stärken, dazu macht Schäuble Anleihen bei dem Kommunitaristen Etzioni, die er mit dem nationalen Gedröhn untermalt, das aus seinem Mund bereits vor fünf Jahren ertönte. Zugleich nimmt er expliziten Bezug auf das Konzept der Bürgerarbeit des Soziologen Ulrich Beck. Nicht unbedingt zusammenhängend, kreisen diese Ausführungen Schäubles um das eine Ziel: Die CDU müsse die große integrierende Volkspartei der Mitte bleiben. Doch da hat er mit dem gleichen Problem zu kämpfen, das der damalige Generalsekretär Biedenkopf 1973 für die erste Oppositionsära diagnostizierte. Die SPD, so stellte der Vordenker fest, habe die politische Sprache besetzt und hindere die CDU, ihre Aussage autonom zu gestalten. Erst nach knapp einem Jahrzehnt war das Hindernis beseitigt.