Kommentar
: Strukturelle Altlasten

■ Der Parteitag der CDU war ein ziemlich ratloser Erneuerungsversuch

Die Christdemokraten haben mehr verloren als die Regierungsmacht. Sie haben das Selbstbewußtsein derer eingebüßt, die nicht nur den rechten Weg zu kennen glauben, sondern auch die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich wissen. Darüber hinaus haben sie unter der Herrschaft des Machtpolitikers Helmut Kohl vergessen, was unter produktivem Streit zu verstehen ist. Wenn der CDU-Parteitag eines gezeigt hat, dann dies, daß die Basis ebenso ratlos ist wie die Führungsspitze.

Nur knapp eine Stunde dauerte die allgemeine Aussprache, und den wenigen Rednern hörte kaum jemand zu. Die meisten nutzten die Zeit zum Kaffeetrinken. Unmut über Versäumnisse im Wahlkampf und die alte Führungsriege äußerte sich später in geheimer Wahl. Da ließen die Delegierten im ersten Wahlgang sieben von zehn Bewerbern für das Präsidium erst einmal durchfallen. Die Parteibasis hat sich daran gewöhnt, Denkzettel allenfalls auf dem Weg der stillen Post zu verteilen. Zu oft hat sich lautes Aufmucken in der Vergangenheit als gefährlich erwiesen.

Als Wunsch nach einer umfassenden Erneuerung der Partei hat ihr neuer Vorsitzender Wolfgang Schäuble das Wahlergebnis gewertet. Aber noch ist fraglich, ob er der Richtige ist, diese Erneuerung zu gestalten. Wieder einmal hat er eine programmatische Rede auf hohem Niveau gehalten. Wäre Schäuble noch immer der zweite Mann, wäre sein brillanter Verstand gelobt worden, und Kohl hätte im intellektuellen Vergleich wohl ein weiteres Mal nicht so gut abgeschnitten. Aber jetzt ist Schäuble die Nummer eins, und nun gelten andere Maßstäbe.

Der neue Parteivorsitzende hat die Delegierten an seinen Erwägungen über politische Theorie und Praxis teilhaben lassen. Wünsche nach Nestwärme, Ermutigung und anderen Gefühlen hat er nicht bedient. Das war die Stärke von Helmut Kohl. Schäuble füllt dessen Platz in diesem Bereich nicht aus. Die CDU müsse zu einem Zentrum des Nachdenkens werden, hat er gefordert. Sie solle mit allen Gruppen des Meinungsspektrums kommunizieren. Von welcher Partei spricht Schäuble? Wofür hält er die CDU? Um sie in seinem Sinne zu verändern, bedürfte es einer gewaltigen Kraftanstrengung. Wahrscheinlicher ist es, daß er selbst sich verändert — oder daß er scheitert. Gegenwärtig scheinen jedenfalls die CDU und ihr neuer Vorsitzender überraschend schlecht zusammenzupassen. Bettina Gaus