■ Erinnerung an die Pogromnacht 1938
: Angst am Neustadtsbahnhof: Warten auf den Vater

Krach! Das Schrillen der Türglocke, Glas, das auf dem Fliesenboden zersplitterte, das Rütteln am Haustürgriff – um vier Uhr früh brachen die Nazis in unser Haus ein. Es gab kein Entkommen. Ich hatte schon am Abend vorher das Gefühl, daß etwas nicht stimmte und war in das Bett meines Vaters geschlüpft. Das hatte ich lange nicht mehr gemacht. Ich war elf. Aber im Blick meines Vaters, der mir immer Trost und Zuflucht gegeben hatte, lag jetzt Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit.

Die drei Männer in Naziuniformen trugen Revolver. Ich hörte, wie sie meine Eltern im Befehlston anbellten, sich anzuziehen. Einer der Männer wandte sich an meine Mutter und sagte: „Ziehen sie etwas Warmes an. Es ist kalt draußen.“ Ich habe dieses Zeichen der Menschlichkeit nie vergessen.

Mein zwölfjähriger Bruder Walter und meine 16jährige Schwester Beate waren auch ins Elternschlafzimmer gekommen. Die Männer ließen es nicht zu, daß unsere Eltern mit uns sprachen. Wortlos nahmen sie meine Eltern mit. Alleine und verstört blieben wir zurück. In dem dreistöckigen Haus Neustadtsbahnhof 24 rührte sich nichts. Im zweiten Stock wohnte die Familie Hein. Die Heins hatten schon ein Visum bekommen und wollten über Bremerhaven in die USA auswandern. Irgendwann gegen acht Uhr tauchten zwei andere Nazis auf und nahmen die Heins fest. Es nützte nichts, daß sie protestierten, sie würden nach Amerika auswandern. Die Heins kamen in ein Auto, wir Kinder in ein anderes. Wir fuhren an Zwinickis Fahrradladen vorbei. Die Zwinickis waren auch Juden. Die Schaufenster ihres Geschäfts waren zerschlagen. Auf der Straße lagen überall Sachen aus ihrem Laden herum.

Das Auto hielt und wir mußten aussteigen. Wir gingen hinter den Nazis her in eine große Halle, in der sich Menschen drängten. Manche waren noch nicht richtig angezogen. Die Nazis brüllten, Kinder weinten. Als ich mich nach meinen Eltern umschaute, sah ich eine alte Frau mit nackten Beinen. Sie trug ein zerissenes Nachthemd. Blut tropfte von ihrem Gesicht und von ihrem grauen Haar. Jemand sagte: „Das Altenheim! Sie haben das Altenheim überfallen!“

Hand in Hand gingen wir herum, bis wir unsere Eltern entdeckten. Wir waren erleichtert. Ich wollte meine Eltern umarmen, um sicher zu sein, daß sie auch wirklich da waren. Aber ich stand einfach da, betäubt wie alle anderen. Überall waren Nazis. Sie vermieden, uns in die Augen zu sehen und behandelten uns wie Ungeziefer. Es schien Stunden später zu sein, als durch den Lautsprecher ausgerufen wurde, daß Mütter mit ihren Kindern, die 16 Jahre und jünger waren, gehen konnten. Ich erinnere mich daran, wie ich meinen Vater am Ärmel zog. Ich wollte, daß er die Hand auf meinen Kopf legte und den hebräischen Segen aufsagte, den er jeden Freitag abend nach dem Sabbat-Mahl für uns Kinder sprach. Aber er hörte mich nicht, und ich fühlte mich verlassen. Es war das letzte Mal, daß ich meinen Vater sah.

Meine Mutter, meine Schwester, mein Bruder und ich gingen nach Hause. Zu Hause. Zersplittertes Glas lag auf den Fliesen verstreut. Das Wohnzimmer lag in Trümmern. Das bestickte, grüne Samtsofa und die Polster der Stühle waren aufgeschlitzt. Im Eßzimmer standen die Türen des Buffetts weit offen. Auf dem Boden lag zerschlagenes Porzellan. Alles was man kaputtschlagen konnte, war kaputt. Meine Mutter stand inmitten dieser Zerstörung ohne eine Träne. Alles was sie sagte war: „Es sieht so traurig hier aus.“ Ein Nazi spuckte ihr entgegen: „Sie haben Glück gehabt. Wollen Sie sterben? Bei den Zwinickis liegt die Frau tot auf dem Boden.“

Ohne ein Wort zu sagen, drehte sich meine Mutter um, und wir begannen aufzuräumen. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann die Glasscheibe in der Haustür ersetzt wurde. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß ich gegessen habe. Ich fühlte mich wie betäubt, wenn ich wieder und wieder an der Haustür darauf wartete, daß mein Vater zurückkehrte. Ursula Krafchick geb. Korbchen

Die Autorin lebt heute in Baltimore, USA. Sie hat ihre Erinnerungen in einem Schreibseminar aufgearbeitet .

Übersetzt u. bearbeitet: kes/ede