Flammendes Fest

■ „IRRTU(R)M“: Bremens Zeitung für/von Psychiatrieerfahrenen feierte das 10Jährige

„Ein Stück aus La serva padrona“, kündigte ein Posaunist an, einer von drei Musik-Acts, die die Lesungen auf der Irrtu(r)m-Fete unterbrachen. „Ah, Pergolesi“, flötet mein Sitznachbar. Das anschließende Bachstück identifiziert er schon nach drei Tönen als „Ah, das wunderbare Air“. Wunderbar. „Die Weser fließt ewig, Bach auch“, wortspielte er virtuos. Trotz Weser kommt Leonard von der Elbe. Insgesamt 40 Redakteure von 16 Zeitungsprojekten von/für Psychiatrieerfahrenen sind aus ganz Deutschland zum 10jährigen Jubiläum angereist. In Berlin publiziert Leonard im Ein-Mann-Betrieb die „z.B.“, fotokopierte „Blätter für sozial(istisch)e Kommunikation“ von und für psychisch Eingeschränkte. „Nicht psychisch Eingeschränkte! Es muß heißen: psychisch Außerordentliche.“ Den persönlichen Beweis dafür liefert er stante pede selbst. Innerhalb von drei Minuten gibt er ein paar Anekdoten über James Joyce, Beckett und Theodor Lessings Tod, empfiehlt die Sprachphilosophie Fritz Mauthners und versucht, psychologisch zu erklären, warum eine junge Frau schallend lacht, als einem Podiumshocker mitten im Vortrag das Manuskript in den Flammen eines Teelichts aufzugehen droht. Sein Assoziationsdickicht bricht alle cerebralen Geschwindigkeitsrekorde. Sein IQ muß irgendwo bei 250 angesiedelt sein. Normalsterbliche kommen da nicht mit. Doch darauf nimmt er keine Rücksicht. Auch nicht auf die ausdrückliche Bitte hin, langsamer zu sprechen: das Problem der Hochbegabung. Zusammen mit einem Freund ist er angereist, um Unterschriften zu sammeln für das sogenannte „Foucault-Tribunal“: In einem fiktiven Gerichtsverfahren vom 30.4 bis 3.5.1998 in der Berliner Volksbühne wurde die herrschende Psychiatriepraxis von Koryphäen wie dem Soziologen Dieter Kamper, US-Autorin Kate Millet und vielen Betroffenen als Verbrechen gegen die Menschenrechte verurteilt.

Der Kampf gegen Haldol, Zwangseinweisung und Verwahrung als Therapieersatz dominiert auch viele Texte im 160 Seiten starken Irrtu(r)msheft zum 10Jährigen. Vor allem aber feiert man dieses Mal sich selbst. Viele „Außerordentliche“ beschreiben die lebensrettende oder zumindest stabilisierende Wirkung ihrer Irrtu(r)m-Mitarbeit. Sie tun das meist ganz schlicht, also ohne geniale Leonard-Schnörkeleien. Außerdem machen sich Gedichte und Erzählungen auf die Spur von Momenten des Abdriftens und Auftauchen – verständlicherweise pathetisch und vollkommen gleichgültig gegenüber Kategorien wie Originalität oder sprachlicher Raffinesse. Trotzdem ergreifend. bk

Preis: 5 Mark. Zu haben im Ostertor- und Neustadtbuchladen oder beim IRRTU(R)M: Vegesackerstr. 174, 28219 Bremen, T. 396 4808