Avantgarde und Witzischkeit

■ Erfolg schüchtert ein: Der 6. „Open Mike“-Wettbewerb in der Berliner Literaturwerkstatt

Zwei Tage lang haben junge Autoren auf dem 6. „Open Mike“- Wettbewerb in der Berliner Literaturwerkstatt ihre Texte vorgestellt. Jetzt sitzen Publikum und Teilnehmer einfach nur da und gucken erschöpft den Zweig einer Zimmerpalme an, den gerade jemand über das Lesepult gehängt hat. Der Zweig gibt sich alle Mühe, seriös auszusehen, zittert allerdings ein bißchen. Vor Aufregung. Denn in wenigen Minuten werden die drei Sieger bekanntgegeben. Und weil der Wettbewerb neuerdings gern „Klein-Klagenfurt“ genannt wird, darf man auch aufgeregt sein.

420 Manuskripte waren in diesem Jahr bei der Literaturwerkstatt eingegangen – so viele wie nie zuvor. Es hat sich anscheinend herumgesprochen, daß der Literaturbetrieb hier auf Talentsuche geht: Verlage wie Rowohlt, Fischer oder Eichborn haben ihre Scouts und Lektoren für das Wochenende nach Berlin geschickt. Und Karin Graf ist natürlich auch da. Allerdings diesmal nicht als Literaturagentin – „daß Sie das in Ihrem Artikel bitte nicht durcheinanderbringen!“ –, sondern für die Bertelsmann Buch AG, die zusammen mit der Landesstiftung Preußische Seehandlung am Open Mike beteiligt ist.

24 Teilnehmer sind ausgewählt worden, und jeder hat genau eine Viertelstunde zum Vortragen: ein Lesemarathon, das nur durch einige kurze Pausen unterbrochen wird. Die allerdings sollen genutzt werden. „Nachwuchsautoren können hier erste Kontakte zu Verlagsleuten aufnehmen“, erklärt Thomas Wohlfahrt, der Leiter der Literaturwerkstatt. Und zählt ein paar Erfolgsgeschichten auf, die in seinem Haus mit auf den Weg gebracht wurden: Karin Duwe, Tim Krohn, Kathrin Röggla – alle haben beim Open Mike mitgemacht.

Erfolgsgeschichten schüchtern ein. In der ersten Lesepause am Samstag nachmittag mümmelt der Nachwuchs darum erst einmal Kuchen und Brötchen, die italienische Namen haben. Und der Literaturbetrieb muß sich zunächst selbst die Hand schütteln. Geht auch. Am Sonntag sind dann alle schon ein bißchen lockerer, und man kann den Nachwuchs im konzentrierten Gespräch mit dem Betrieb beobachten. Oder auch mit Karin Graf von der Bertelsmann Buch AG. Aber es geht nicht nur ums Geschäft: „Es ist einfach wichtig, daß ein Feedback kommt, daß die jungen Autoren so hören: Das war gut, das war nicht so gut – nachdem sie gelesen haben“, erklärt Thomas Wohlfahrt, und das findet auch Karin Graf von der Bertelsmann Buch AG: „Einigen muß man einfach mal sagen, daß sie die Konjunktive richtig setzten sollen.“

Das sind die Pausen. Und dazwischen? Eine junge Frau mit Lederstiefeln trägt Naturlyrik vor: „Elegien aus verschütteten Räumen“. Ein junger Mann mit sehr ernstem Gesicht liest eine Geschichte mit dem Titel „Die digitalpsychedelische Haifischanlage meines durchgeknallten Erbonkels“. Das Wort „ficken“ kommt in den Texten recht häufig vor: Viele Autoren wollen am liebsten ganz lustig oder ganz kraß sein. Andere dagegen wollen vor allem genau sein und gleichzeitig über Gefühle – meistens traurige Liebe und Einsamkeit – reden: Manchmal ist das so präzise konstruiert, daß es langweilig wird. Und manchmal ist es einfach schön: Wie Pia Sondereggers Miniaturgeschichte vom einsamen Herrn Köpke, der gern eine Pappkrone auf dem Kopf trägt und sich gelegentlich ein Zimmer in einem Hotel seiner Stadt nimmt: weil er gern in fremden Betten schläft.

Dazu gibt es noch zwei, drei handfeste Short stories und Texte, die man sich sofort zwischen zwei Buchdeckeln vorstellen konnte. Zum Beispiel Eike Bornemanns Erzählung über einen Taschendieb im Berlin der zwanziger Jahre: eingängige Sprache, Bilder und Dialoge wie in einem Kinofilm, prima Einfälle. „Sehr professionell“, sagt man in so einem Fall, und vermutlich liegt der Roman im nächsten Jahr in den Buchhandlungen. Doch dieser „Verwertungszusammenhang“ soll beim Open Mike nicht das Kriterium sein: „Wir sind neugierig auf das, was in der Literatur nach vorne führt“, erklärt die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz, die in diesem Jahr zusammen mit ihrem Münchener Kollegen Georg M. Oswald und der Berliner Lyrikerin Brigitte Oleschinski die Jury bildete. Also Avantgarde? Au weia.

Am Sonntag nachmittag um vier werden die Sieger bekanntgegeben. Plötzlich hält der aufgeregt zitternde Zimmerpalmenzweig vor Verwunderung einen Moment lang still. Und dann kichert er höflich. Denn mit einem Preisgeld von je 3.000 Mark werden drei Autoren aus der Abteilung „lustig“ ausgezeichnet. Nix Avantgarde, nix Gefühle: Boris Preckwitz, der einen lärmenden Slam-Poetry- Auftritt zwischen die verhaltenen Leseviertelstündchen seiner Kollegen geschoben hatte. Tobias Hülswitt mit einer Satire auf die Besorgniskultur in der deutschen Provinz. Und Stefan Groetzner, der Mann mit dem ernsten Gesicht und der „digitalpsychedelischen Haifischanlage“.

Die besten Texte des Wettbewerbs sind das bestimmt nicht. Allerdings die, bei denen das Publikum am meisten gelacht hat. Vielleicht ist es ja doch der Spaß, der „in der Literatur nach vorne führt“. Könnte ja sein. Kolja Mensing