Bubis gegen Walser Wie sollen wir uns erinnern?

■ In seiner Rede zum Jahrestag des Novemberpogroms rückt der Vorsitzende des Zentralrats der Juden den Friedenspreisträger in die Nähe von Rechtsextremisten

Berlin (taz) – Die Rede kam nicht ganz unerwartet. Mehrfach hatte der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, in den vergangenen Wochen seine Verärgerung über den Schriftsteller Martin Walser zu Protokoll gegeben. Was sich dann auf der gestrigen Gedenkveranstaltung an die Reichspogromnacht von 1938 abspielte, kam in seiner Vehemenz trotzdem überraschend und ist ohne Beispiel in der Geschichte der bisher auf Harmonie bedachten Erinnerungszeremonie. Bubis widmete den größten Teil seiner Ansprache massiven und namentlichen Angriffen auf den Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, den er in die Nähe von Rechtsextremisten rückte.

In Anwesenheit von Bundespräsident Roman Herzog, Bundeskanzler Gerhard Schröder und Bundestagspräsident Wolfgang Thierse sagte Bubis: „Den neuesten Versuch, Geschichte zu verdrängen beziehungsweise die Erinnerung auszulöschen, hat Martin Walser (...) am 11. Oktober dieses Jahres unternommen.“ Der Friedenspreisträger hatte in seiner Dankesrede mit Blick auf die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von einer „unaufhörlichen Präsentation unserer Schande“ gesprochen, die ihn nicht zur Dankbarkeit, sondern zum Wegschauen veranlasse.

Bubis, der aus Walsers Rede ausführlich zitierte, warf dem Schriftsteller „geistige Brandstiftung“ vor, wenn er in der Erinnerung an die NS-Verbrechen eine Instrumentalisierung von Auschwitz sehe. „Das sind Behauptungen, wie sie üblicherweise von rechtsextremen Parteiführern kommen“, so der Zentralratsvorsitzende. „Ich kenne keinen, der sich auf (die DVU- und NPD-Funktionäre, d. Red.) Frey oder Deckert beruft, aber mit Sicherheit werden sich die Rechtsextremisten jetzt auf Walser berufen.“ Dessen Rede sei in Teilen eines Friedenspreisträgers „unwürdig“ gewesen, weil sie „eindeutig für eine Kultur des Wegschauens und Wegdenkens, die im Nationalsozialismus mehr als üblich war“, plädiere. Bubis machte deutlich, daß er Walsers Äußerungen für das Symptom eines gesellschaftlichen Trends hält. Der intellektuelle Nationalismus nehme zu und sei nicht ganz frei von unterschwelligem Antisemitismus.

Die Politprominenz im Publikum reagierte zum Teil verunsichert auf Bubis' Bruch mit der Tradition, derartige Gedenkveranstaltungen einvernehmlich zu gestalten. „Bitte, verstehen Sie, daß ich mich jetzt weder dafür noch dagegen aussprechen kann“, sagte Bundestagsvizepräsident Rudolf Seiters (CDU) der taz. „Das war vielleicht ein Ton, wie man ihn bisher nicht gehört hat“, kommentierte Brandenburgs Justizminister Hans-Otto Bräutigam (SPD) den konfrontativen Stil, „aber diese Auseinandersetzung muß man offen und auch mit der nötigen Schärfe führen.“ Innenminister Otto Schily (SPD): „Das ist das gute Recht von Herrn Bubis!“ Ein Literat wie Walser tue gut daran, „seine Worte sorgfältig zu wägen“. Nur ein Teilnehmer verpackte seine Bedenken über den Konflikt zwischen Walser und Bubis in den behutsamen Stil früherer Gedenkveranstaltungen. „Ich bin nicht sicher, ob wir die rechten Formen des Erinnerns für die Zukunft schon gefunden haben“, sagte in seiner Rede Bundespräsident Herzog.

Patrik Schwarz Aktuelles Seite 2