Anarchische Spielwiesen

■ Wenn der Verstand einmal von der Kette gelassen wird: Das Metropolis zeigt eine Filmreihe zum Festival Verrückte Kunst

m Kino lernt der Verstand fliegen. Es ribbelt an der Trennung von Innen und Außen, tobt sich in unmöglichen Gleichzeitigkeiten aus und montiert sich Zeit und Raum je nach Bedarf. Leinwandbilder und Seelenprojektionen sind seit jeher verschwistert. Schließlich ist das Kino, diese Illusion aus 24 mal Licht und Schatten pro Sekunde, nach seiner Geburtsstunde direkt auf die Couch geplumpst zu dieser anderen Traumbildmaschine, der Psyche. Denn 1895 war nicht nur das Jahr in dem der einfahrende Zug der Gebrüder Lumière sein Filmpremierenpublikum in blanke Panik versetzte, sondern auch das, in dem Freud seinen „Entwurf einer Psychologie“ vorlegte. Und während das Ich fortan nicht länger Herr im eigenen Haus war und sein Einzelticket für die Reise zur Erkenntnissonne knicken konnte, brach der Film schon bald zum Mond und in Filmen wie Pabsts Das Geheimnis der Seele oder Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari zum psychischen Mikrokosmos auf.

Vor allem zwei seiner Ur-Topoi mag das Kino bis heute ganz gern: Verrückte und Zugfahren. Genau wie Torsten Ricardo Engelholz. Stundenlang sitzt er in der U-Bahn. Immer weiter. Bloß nicht anhalten, bloß nicht ankommen. Die Linie 8 in Berlin ist ihm am liebsten. „Die ist mir immer treu“, sagt er und lauscht weiter auf das Rattern, auf die Ansagen, auf die Gespräche der Mitfahrer. Er sammelt alles. Vom Können-Sie-mal-zur-Seite-rücken bis zum Muß-das-denn-sein. Kommunikations-Minimals, die die Passanten wie leere Brötchentüten fallenlassen. Torsten hebt sie achtsam auf, merkt sie sich genau, läßt sie in seinen Kopf springen, bis sie auf seltsamen Schleichwegen als poetische Betrachtungen wieder seinen Gedankenkasten über den Mund verlassen. Torsten ist ein Dichter, ein Künstler, und er ist verrückt. Die halbe Kindheit hat der heute 32jährige in einer dunklen Kammer verbracht. Aufgeriegelt wurde meist nur, um ihn gehörig zu versohlen. Wenn der Vater die Futterzeiten wieder mal verdöste, trank Torsten die eigene Pisse. Und wenn die Welt tausendmal nur der Lichtschlitz unter der Tür war, leben wollte er trotzdem. Im Freudschen Universum ist er krank. Phobisch, schizoid, depressiv. In dem behutsamen Dokumentarfilm von Elfi Mikesch Verrückt bleiben, verliebt bleiben, den das Metropolis in einer Filmreihe anläßlich des “Festivals Verrückte Kunst“ zeigt, ist er vor allem eins, ein multiperspektivischer Erzähler, der in vier Dimensionen denken kann.

Auch Ernst-Peter Eiffe ist einer, der das eigene Verrücktsein immer als anarchische Spielwiese eines von der Kette gelassenen Verstands feiern konnte. Nach seiner Zeit als Hamburger Stadtbeschrifter während der Studentenunruhen verbrachte er die letzten 15 Jahre seines Lebens in der geschlossenen Anstalt von Rickling/Holstein. Wenn auch die Psychopharmaka seine Energien unter die Käseglocke verordneter Friedlichkeit legten, übernahm er doch auch hier mit einer Faust voller Eddings die Innendekoration. Christian Bau zeichnet in seiner Dokumentation Eiffe for President – Alle Ampeln auf Gelb die Lebenssituationen des Beschrifters, den man im Winter 1984 erfroren auf der Moorwiese fand, noch einmal nach.

Birgit Glombitza

Das Cabinet des Dr. Caligari: Mo, 16. November, 20 Uhr. Eiffe for President – Alle Ampeln auf Gelb: Fr, 20., 17 Uhr; So, 22. November, 19 Uhr. Verrückt bleiben, verliebt bleiben: Mo, 23. November, 17 Uhr. Dialogues With Madwomen: Do, 26. November, 17 Uhr. Ombres: Fr, 27. November, 19 Uhr, Metropolis