Die Neuordnung der Dinge

■ Das Experiment „Nacht der Jugend“: Pogromnacht-Gedenken mit Musik im Rathaus

Michael Jackson und Michael Gorbatschow hat Bremens Bürgermeister Henning Scherf (SPD) schon im Rathaus begrüßt. Am Dienstag abend steht er auf den wackeligen Brettern der Bühne in der Unteren Rathaushalle und soll das türkische Rap-Duo Mutlu ankündigen. Scherf, der routinierte Regierungschef, gerät ins Wanken. „Ich soll jetzt hier Mutlu ankündigen, aber die sind noch nicht da“, sagt er. Sein Lächeln wirkt herzlich, aber angespannt. Der Besuch an diesem Abend hat es in sich. Mehr als 3.000 Jugendliche wollen mit ihm im Rathaus in einer „Nacht der Jugend“ der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 gedenken. Ein Denkmalschützer hat vorher überprüft, ob das zwischen 1405 und 1409 erbaute Rathaus den wummernden Bässen von Mutlu und Co. überhaupt stand hält. Scherf erblickt den Vater der beiden Mutlu-Mädchen. „Hallo“, ruft der Bürgermeister ihm zu. „Ich kündige gerade Deine Töchter an, aber die sind noch nicht da. Ah, da sind sie ja.“

Scherf verläßt die Bühne. Rap dröhnt durch die übermannshohen Boxen. Auf einem Tisch im Nebenraum liegen Bücher über den Holocaust. Ein Kontrastprogramm, das im Vorfeld für Diskussionen gesorgt hat. Ist eine Feier im Rathaus mit Musik der richtige Rahmen für eine Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht?

Es ist das erste Mal in Deutschland, daß eine Landesregierung ihr Haus Jugendlichen überläßt, um der Pogromnacht zu gedenken. Alle Türen sind offen. Im Senatssaal erinnern Stellwände an die 20 Kinder vom Bullenhuser Damm. Sie wurden am 20. April 1945 im Keller der Hamburger Schule von der SS erhängt, um die Spuren der Menschenversuche des Arztes Kurt Heißmeyer zu verwischen. Ein Mädchen blickt vorsichtig nach links und rechts, schiebt den schweren Stuhl am Kopf des Tisches, an dem bei den Senatssitzungen der Bürgermeister Platz nimmt, zur Seite und setzt sich. Triumphierend blickt sie in die Runde. Hier wird also Politik gemacht.

Die obere Rathaushalle ist brechend voll. Ein Blondschopf in Lederjacke und ernstem Gesicht verteilt Flugblätter. „Wer von Abass nicht reden will, soll von Anne Frank schweigen“, steht darauf. Die SchülerInnen der Tobias-Schule, des Kippenberg-Gymnasiums, des Schulzentrums Julius-Brecht-Allee und der St.-Johannis-Schule erinnern mit einer Aufführung an die Pogromnacht in Bremen. Fünf Menschen wurden in dieser Nacht ermordet. Ihre Namen schallen durch die Halle. Heinrich Rosenblum, Selma Zwienicki, Leopold Sinasohn, Adolph und Martha Goldberg. „Der 9. November war eine hell erleuchtete Station auf dem Weg nach Auschwitz“, singen die Schüler, begleitet von Klavier und Klarinette. „Die Nazi-richter wurden niemals bestraft“, geißeln die Schüler die Justiz. „Ist Haß auf Juden nicht ein niedriger Beweggrund?“ Mitunter ist es mucksmäuschenstill. Gedränge auch im Kaminsaal. Die Jugendlichen sitzen auf den Mormorfensterbänken und stehen dicht gedrängt an den Wänden – immer darauf bedacht, daß die Ölgemälde nicht abgehängt sind. Auf dem Kamin stehen kostbare chinesische Vasen. Die Jugendlichen warten auf Bürgermeister Scherf und auf Wolf Biermann. Auf den Marmorfensterbänken liegen Anoracks und Lederjacken übereinander. Eine Diskussion über die „Gestaltung einer menschenwürdigen Zukunft“ steht auf dem Programm. Behutsam bahnt sich Scherf den Weg durch die Menge und setzt sich. „Fangt doch mal an. Man kann in dieser Luft nicht so lange stehen“, sagt er laut und bestimmt. Applaus. „Bitte anfangen sofort“, schiebt er nach. Sein Ton ist eine Spur zu scharf. Er wirkt angespannt. Diese Veranstaltung ist ein Wagnis. Die Sorge darüber, daß es schiefgehen könnte, steht Scherf im Gesicht geschrieben.

Biermann ergreift das Wort. „Ihr habt nicht den Hauch einer Schuld“, sagt Biermann. Er kassiert für seinen Auftritt eine Gage von 10.000 Mark, die über eine Spende von Werder-Bremen finanziert wird. Nach der Diskussion gibt er ein zweistündiges Konzert in der Oberen Rathaushalle. „Jeder, der Euch einreden will, Ihr seid schuld, ist ein Schwein, ein Verbrecher. Ihr seid nicht schuldig, aber verantwortlich, wenn Ihr Euch verpissen wollt.“ Biermanns Worte gehen im Applaus unter. Kurz darauf meldet sich Paul Bruns von der Projekt-Gruppe „Ibrahim und Abass müssen bleiben“ zu Wort. Die SchülerInnen der Kornstraße setzen sich dafür ein, daß die beiden Brüder aus Togo, 16 und 18 Jahre alt, in Deutschland bleiben dürfen. Warum Abass und Ibrahim abgeschoben werden sollen, will Bruns von Scherf wissen. Doch der antwortet nicht. „Ich will gerne und jederzeit über Togo reden“, sagt er mit Blick auf die Schüler. „Aber vergeßt nicht, was heute der Anlaß ist.“

Kurz darauf meldet sich ein Mann zu Wort. Der Ausdruck Ausländerfeindlichkeit gefalle ihm nicht, sagt er. Menschenfeindlichkeit sei das. Biermann ist begeistert. „Also, das finde ich jetzt ganz toll, was sie da gesagt haben. Das habe ich noch nie bedacht.“ Zum Schluß spricht der Liedermacher Scherf ein Lob dafür aus, daß er „seine Bude“ für die Jugendlichen geöffnet habe. „Danke dafür, daß wir an diesem heiligen Ort so unheilig zusammen sind.“ Er zittere innerlich noch immer, gibt Scherf unumwunden zu. „Hoffentlich geht das gut“, sagt er.

Die Tür zum Gobelin-Zimmer, das vom roten Kaminsaal abgeht, steht weit offen. Hier trifft sich der Senat vor den Sitzungen zur sogenannten Frühstücksrunde. Weiße, mit teurem Damast bezogene Stühle stehen um den weiß gedeckten Tisch herum. Ein Kronleuchter hängt von der Decke. „So, so, hier bestimmen die also über unsere Zinsen“, sagt ein Jugendlicher, der nach der Diskussion die Nase zur Tür hineinsteckt. Ein anderer setzt sich auf einen der kostbaren Stühle und dreht sich eine Zigarette. Auf der Marmorfensterbank steht ein Plastikbecher.

Auf dem Weg zum Bürgermeisterzimmer, der ausgeschildert ist, liegt die Internet-Corner. „Ich schäme mich nicht, daß ich Deutscher bin“, tippt ein Junge namens Mencis in den Computer. „Aber meiner Vorfahren schäme ich mich im großen und ganzen schon.“ Im Bürgermeisterzimmer sitzen sechs Jugendliche um den großen, runden Holztisch herum. In der Mitte steht eine blau gemusterte Schale mit Äpfeln, daneben thront eine Kristallkugel. „Ob der Bürgermeister durch diese Kugel in die Zukunft sieht“, fragt leise ein Junge. Auf dem Telefontischchen liegt ein Buch mit den Reden Kaisens. „Bereitschaft und Zuversicht“ heißt der Titel. Nicht einmal seine Schreibtischunterlage hat der Bürgermeister weggenommen. Die Hochzeit des Sohnes unter Glas, daneben das Bild von Ehefrau Luise. Und darüber ein Spruch von Machiavelli: „Stets gilt es zu bedenken, daß nichts schwieriger zu bewerkstelligen, nichts von zweifelhaften Erfolgsaussichten begleitet und nichts gefährlicher zu handhaben ist als eine Neuordnung der Dinge.“ Kerstin Schneider