Die Stille nach dem Sturm

■ Das furiose Gastspiel „Tempesta“ des Teatro Nucleo in der alten Vulkan-Halle zwingt die Zuschauer gnadenlos, mit der Erinnerung an den Nazi-Terror umzugehen

Diese Aufführung bleibt wie ein Kloß im Halse stecken. Nach sechzig furiosen Minuten endet die Ghetto-Geschichte „Tempesta“ in tiefer Stille. Verstummt ist der Abgesang auf „dieses Europa“. Drei Gestalten nehmen ihre zum Himmel gewandten Arme herunter und gehen ab. Zurück bleibt stilles Gedenken an ein massakriertes Volk. Und es bleibt. Und es bleibt länger.

Rascheln im Publikum. Zögerliches Händeklatschen. Aber der erlösende Vorhang bleibt aus. Die Schauspieler des Teatro Nucleo bleiben verschwunden, nur in der Erinnerung lebendig, wie jene jüdischen Typen, die sie in ihrem Ghettoleben, -lieben und -leiden verkörpert haben. Auf den verdienten Applaus verzichten sie und schicken die Zuschauer in einer unaufgelösten real-theatralen Spannung auf den Gang über das dunkle Vulkan-Gelände. Am Dienstag abend wurde in der ZAW-Halle der alten Werft erstmals Theater gespielt.

Die Stärke des Schlusses hebt diese Produktion der Truppe aus dem italienischen Ferrara über das Niveau von gut getimtem, aus starken, einfachen Bildern gebautem Straßentheater hinaus. Die Betschule, eine jüdische Hochzeit, Handwerker auf der Straße: Alltag eben, der durch heraufziehenden Terror bedroht und schließlich vernichtet wird, bis schließlich schwarze Vögel über der in gespenstisches Licht getauchten Zerstörung kreisen.

Mit dem offenen Schluß hat die in Argentinien geborene Regisseurin Cora Herrendorf das an Shakespeares „Sturm“ und Mary Bergs „Das Warschauer Ghetto“ angelehnte Gesangs- und Tanzstück aber endgültig zu einem eindrucksvollen und eindeutigen Beitrag zum 9. November erhoben. Da hätte es der mahnenden Worte des Leiters des veranstaltenden Bürgerhauses Vegesack und eines jüdischen Gemeindevorstands nicht bedurft.

Schließlich ertönt zu Beginn des Stücks aus dem Off die geistergleiche Stimme eines Vaters, der seine Tochter mahnt, sich zu erinnern. Vater und Tochter sind Geister, Prospero und Miranda aus Shakespeares Sturm. Irgendwie scheinen sie das nun folgende Vernichtungsdrama überlebt zu haben. Theater als Rückschau, als fiktiver Blick derjenigen auf die Welt, die nicht mehr auf ihr leben.

Ein 30 mal 15 Meter großes Rechteck hat der Ausstatter Georg Sobbe durch zerschrammte Flügelfenster und Fensterläden zu einem Innenraum abgeteilt. In der Hallenmitte spielt dort das Ghettoleben, beobachtet von einem öligen Nazi, der auf einem wachturmartigen Gerüst steht und Dartpfeile wirft. Von dort aus ruft er mit schnarrender Stimme die Edikte zur „Endlösung der Judenfrage“. Von dort steigt er herab, um seine Gerte auf die Beine der Frauen sausen zu lassen und sich unter den Juden einen Hilfsschergen zu verpflichten. Der summt schließlich als Zeichen der Anpassung „Stille Nacht“.

Die Opfer wehren sich verzweifelt. Sie singen, sie tanzen voller Lebenswillen. Und sie demonstrieren, spannen Transparente auf. „Juden geht nicht wie Schafe zur Schlachtbank.“ Zur Rache geht das Ghetto in Flammen auf, im Hintergrund scheppert Glas. Schreie der Verzweiflung wandeln sich allmählich in trotzigen Singsang. „Die Juden müssen verschwinden“, spricht der weißbehandschuhte Nazi im Stile eines Conferenciers. „Wappnen Sie sich gegen das Mitleid“, rät er den rund 300 Zuschauern.

Denn in der nächsten Szene kriechen die weißgekleideten Gestalten hervor und rufen nach ihren Kindern „Rachel, Sarah, Yasmin, David“. Der Scherge zieht eine Leine über die Bühne. Daran baumeln Kinderkleidchen und Strampelanzüge. Hinten zieht eine verzweifelte Mutter und muß schließlich loslassen. Wieder Gesang, kalte Schauer ziehen durch die Halle. Gebückt schleppt einer ein rauchendes Klavier durch den Raum. „Unser Fest ist aus“, sagt Prospero aus dem Off, „unsere Spieler waren Geister.“ Die in weiß gewandeten Juden haben ihre Koffer gepackt zur Abreise. Sie klappen auf, darin stehen Kerzenleuchter. Die Lichter brennen weiter, als die Juden durch das Nazi-Tor den Bühnenraum verlassen. Drei geben noch den Abgesang auf Europa. Dann regiert die Stille.

Kein Applaus. Wofür auch? Für den Massenmord an einem Volk? Den vergeblichen trotzigen Lebenswillen der Opfer? Oder für sich selbst, daß man es sich zumutet, solidarisch ein Stück über die Vernichtung der Juden und anderer Völker anzusehen? Da hinterläßt es mehr Eindruck, mit dem Kloß im Hals übers dunkle Werftgelände laufen zu müssen und den scheppernden Stahlstangen auf einem Förderband zu lauschen.

Die alte Vulkan-Halle hat sich bei ihrem Debut als Theaterbühne wacker gehalten. Der Ort hat das Zeug, von weiteren mutigen Veranstaltern genutzt zu werden.

Joachim Fahrun