Tanz auf Knallfröschen

„Welthaltig“ ist er nicht, doch der Sound klingt sehr gut: Gisela Stelly erzählt in ihrem Roman „Lili und Marleen“ die verschlungenen Lebensgeschichten dreier Frauen  ■ Von Gerrit Bartels

Sie ist immer zu leicht gewesen. Seit jeher kennt sie nur ein Gefühl: wie über dem Boden zu schweben. Über Teppichböden, Steinböden, Holzböden, ja, selbst wenn sie über Gras oder durch Sand läuft, verläßt sie dieses Gefühl nicht.“ So charakterisiert Gisela Stelly in „Lili und Marleen“ die Marleen, „die Blonde mit dem streichholzkurzen Haarschopf“, die in der Berliner Silvesternacht 1979/80 eine andere junge Frau mit „langen, dunklen Locken“ kennenlernt: Lili.

Und so, wie Marleen sich zeit ihres Lebens fühlt, so liest sich dieser zweite Roman der in Hamburg lebenden Schriftstellerin und Filmemacherin Gisela Stelly: Dank seiner unprätentiösen, leichtfüßigen und Erinnnerungen an Kinderbücher weckenden Sprache vermittelt „Lili und Marleen“ ein angenehmes Gefühl des Schwebens. Sein Sound produziert eine Leichtigkeit. Eine, die nicht über verschiedene Bodenbeläge rüberhüpfen muß, sondern über schwergewichtiges Etikett wie „welthaltig“, das der Verlag dem Buch als Kaufanreiz mit auf den Weg in die Läden geben zu müssen meinte: nur weil es seine Protagonistinnen auch nach Australien, an den Comer See oder in die USA verschlägt.

Und locker hüpft es auf diese Weise auch über eine andere, von der Autorin aber sicher mit einkalkulierte Falle hinweg: es als eine Art (kleiner) Zeit- oder Berlin- Roman lesen zu müssen. Das ist „Lili und Marleen“ mitnichten. Denn auch wenn Kapiteleinteilung und Erzählstruktur das nahelegen mögen, bildet das Berlin der Achtziger und Neunziger nicht mehr als eine Kulisse, vor der Stelly einige hübsch verschlungenene und aparte Liebes- und Lebensgeschichten erzählt.

Nachdem sich also Lili und Marleen auf einer S-Bahn-Fahrt von Ost nach West kennengelernt haben, begehen sie den Jahreswechsel in einem italienischen Restaurant in Charlottenburg, wo sie der dreiundsechzigjährigen Miss Molly begegnen: Miss Molly ist die Dritte im zukünftigen Freundinnenbunde, die später mehr oder weniger Schicksal spielt für Lili und Marleen. In dem Restaurant feiern die drei auch Silvester 89/90 und 99/00, und da wird dann auf die vergangenen Dekaden zurückgeblickt.

Mitunter recht heftig knarrt es im Metapherngebälk, wenn Stelly versucht, die historischen mit den privaten Veränderungen im Leben ihrer drei Heldinnen zu verknüpfen. So taucht mehrmals die Figur eines Pärchens auf, das „schwarz in schwarz verschmolzen“ aussieht, „an den Hüften wie zusammengewachsen, die Arme um die Schultern des anderen gelegt, die Münder in einem Kuß, der nicht enden wollte, aufeinandergepreßt“. Zwei Performance-Künstler, wie Miss Molly irgendwann aufklärt, „die zeigen wollen, daß Ost und West zusammengehören und die Liebe alles überwindet, auch Mauern“. So hat der Restaurantbesitzer Luigi nach der Wende seine Wände neue lasiert, auf daß sie aussehen, als ob man sich in andere Räume hineindenken könne. „Wir brauchen Visionen“, erklärt Luigi das. Und so gleicht auch Lili, nachdem sie ihre große Liebe in den USA zurückgelassen hat und wieder nach Berlin zurückgekehrt ist, das erst mal ungewohnte Treiben im Nachwende-Berlin mit dem eigenen Leben ab: „Berlin geht's wie mir: Wir beide leiden an Trennungsschmerz. Doch jede Trennung ist auch ein Anfang.“

Da gibt's ordentliche Ladungen Symbolhaftigkeit, da zuckt es in den Augenlidern, da vergißt man dann öfters, daß man die Geschichte der drei eigentlich nicht ungern verfolgt und Stelly auch sehr schöne und verträumt poetische Bilder heraufbeschwören kann: Lili, die um Knallfrösche herumtänzelt; oder die riesigen Tortenberge in dem Café bestaunt, in dem sie arbeitet. Miss Molly, die die Geschichte ihrer drei Ehemänner gut anhand ihrer Silvesterkleider erzählen kann; oder die Erfindung ihres allerersten Geliebten bis zum Schluß des Buches in die Tat umsetzen möchte.

Manchmal bekommt man dann zwar auch den Eindruck, daß die beruflichen Emanzipierungsbestrebungen der drei Damen arg modellhaft und siebziger-Jahre- Frauen-Literatur-mäßig um die Ecke kommen: Die eine ist nach ihren gescheiterten Ehen Chefin eines Stoffgroßhandels geworden, die andere wird Filmemacherin, die ihrer 68er Mutter erklärt, daß Filmemachen wie Kinderkriegen ist, die dritte erhält wegen der Entwicklung von „Beziehungskonzepten“ für die Neunziger in ihrer Werbeagentur die Kündigung. Doch das sind dann schon nicht mehr als Schönheitsfehler, die dem sehr gut klingenden Sound dieses Buches kaum in die Quere kommen wollen.

Heute abend präsentiert Gisela Stelly ihr Buch zusammen mit Sabine Christiansen um 20 Uhr im Berliner Ensemble (Probebühne), Bertolt-Brecht-Platz 1, Mitte

Gisela Stelly: „Lili und Marleen“. Arche Verlag, 292 Seiten, 38 DM