Ein Kosmos mit vielen schwarzen Löchern

■ Fit fürs Schreiben: Langstreckenläufer Günter Herburger sammelt Weggeworfenes am Wegesrand und komprimiert daraus seine Lyrik. Im neuen Gedichtband ist er „Im Gebirge“

Mit schöner Regelmäßigkeit legt der Münchner Schriftsteller Günter Herburger seit Jahren Gedichtbände, ganze Zyklen und Sammlungen vor, ebenso wie er auch seit Jahren schon läuft — Marathon und noch weit darüber hinaus. Ob er es nun mag oder nicht, aber es muß gesagt werden: Das Laufen und das Schreiben gehen bei ihm eine Symbiose ein, laufend macht er sich fit für die Arbeit am Schreibtisch, und beim Laufen — der Propädeutik für die nachfolgende Textstrecke sozusagen — macht er auch seine Trouvaillen, stößt auf Fundstücke am Wegrand, auf Weggeworfenes, Stehengelassenes, Unbeachtetes, immer aber auf bedenkenswertes Material. Beim Laufen und im Lauf entdeckt der Schriftsteller und, wenn man die altertümliche Bezeichnung mag, der Poet Herburger seinen Stoff und seine Thematik, die er dann zu lyrischen Texten verdichtet, zu Texten, die irgendwo zwischen den Polen einer reinen Gedanken- und einer unreinen Erlebnislyrik angesiedelt sind, in jedem Fall aber im Sinne des späten Brecht als Alltagslyrik daherkommen: entschlackt von der Empfindelei der neuen Subjektivität.

Die Hermetik mancher Texte entsteht nicht durch Metaphernfülle oder einen dunklen Einschlag, sie stammt von keinem „Gläs der Worte“ (A.V. Thelen), sondern ist dem Herburgerschen Kosmos geschuldet, dem Faktum, daß Herburger im Grunde genommen seit seinen ersten Veröffentlichungen Anfang der 60er Jahre, gewiß aber seit seinem Versuch zu einem neuen Epos — mit Romanen wie „Flug ins Herz“ (1977), „Die Augen der Kämpfer Iu.II“ (1980, 1983) und „Thuja“ (1991), den Laufbüchern und den parallel dazu entstandenen Lyriksammlungen — an einem einzigen großen Text, an seiner Textwelt eben schreibt. Die einzelnen Veröffentlichungen stellen immer wieder (nur) einzelne Teile dar. Nur: Ein geschlossenes Bild entsteht dabei nicht — soll und kann sich auch nicht ergeben. Es ist ein Kosmos mit vielen schwarzen Löchern.

Auch im neuen Gedichtband wird der Leser auf die Herburgersche (Text-)Welt verwiesen. Er wird mit Figuren und Situationen aus anderen Büchern konfrontiert, Assoziationen ausgesetzt und mit Erinnerungen Herburgers an Bekannte und Verwandte, Freunde und Dichterkollegen, schließlich mit Bildern bedient, flüchtigen Fotoaufnahmen vergleichbar. In einem der Gedichte, in „Die Verlierer“, wird des jüngst verstorbenen Hermann Lenz gedacht, des „Wanderers“ und Dichters, „der unerträglich / langsam geht sowie er schreibt“; doch damit kann der Läufer, scheint es, der ständig viele verschiedene, oft schnell abrollende Bildersequenzen sammelt, nur wenig anfangen. Es ist halt schon ein großer Unterschied, ob man sich wandernd oder laufend fortbewegt und die Welt dabei aus einer eher gemütlichen Perspektive oder aber in einer flüchtigen, oberflächlichen Einstellung anschaut. Wo bei Lenz die Detailliertheit im Kleinen herrscht, fasziniert bei Herburger ein assoziativ entfaltetes Breitenspektrum. Verzichten sollte man jedoch auf beides nicht. Werner Jung

Günter Herburger: „Im Gebirge“. Gedichte. Luchterhand, München 1998, 112 Seiten, 25 DM