Ein-Mann-Unternehmen im Dienste der Erkenntnis

■ Mit Niklas Luhmann ist einer der bedeutendsten deutschen Gesellschaftswissenschaftler der Nachkriegszeit gestorben. Der Bielefelder Systemtheoretiker, der sich nie wettkämpferischen Debatten verpflichtet fühlte, beanspruchte, alle gesellschaftlichen Bereiche abzudecken

Der auffällig höfliche, stets in uneitler Bescheidenheit auftretende Niklas Luhmann übernahm nicht selten den Part des Spielverderbers – aus rein systemtheoretischen Gründen, versteht sich. Als er vor gut eineinhalb Jahren in den Räumen der Berliner Siemens AG über das Verhältnis von Kultur und Unternehmen sprechen sollte, schickte er ohne Umschweife voraus, daß er Probleme mit der Kultur habe. Sie sei kein eigenes System und komme zu oft vor. Für Fragen, wie die Wirtschaft der Kunst helfen und die Kunst sich umgekehrt vor Vereinnahmung schützen könne, erklärte Luhmann sich nicht zuständig. Die Abhängigkeit der Kunst von Geld sei eine rein ökonomische Frage, die das System Wirtschaft betreffe.

Wer auf steile Thesen in Verdiktform hoffte, war bei Luhmann an der falschen Adresse. Behutsame Verweigerung, die sich erst auf den zweiten Blick als freundlicher Verweis verstehen ließ, ist ein Charaktermerkmal der Luhmannschen Soziologie insgesamt. Seine Theoriearchitektur ist ganz und gar nicht kathedralenhaft, doch im Laufe der Jahre erwies sie sich als Schauplatz für Gemeindenbildung. Die kühle, auf begriffliche Genauigkeit beharrende Gesellschaftstheorie Luhmanns war nicht zuletzt zum Bestandteil der Popkultur geworden. Mit dem ganz und gar nicht glamourösen Soziologen ist in seinem Haus in Oerlinghausen bei Bielefeld, wie erst jetzt bekannt wurde, bereits am 6. November einer der bedeutendsten Gesellschaftstheoretiker der Nachkriegszeit gestorben.

Wer sich in den siebziger Jahren im intellektuellen Milieu mit Luhmann beschäftigte, mußte sich rasch damit vertraut machen, des konservativen Denkens verdächtigt zu werden. Luhmann, so lautete der Generalvorwurf in linken Wissenschaftskreisen, betreibe eine systemerhaltende Sozialtechnologie, die zur Konstruktion einer fortschrittlichen Gesellschaft wenig beizutragen habe. In einer Zeit, als politisches Engagement eine Voraussetzung für den Anspruch auf gesellschaftliche Redezeit war, erschien die sich erst langsam abzeichnende Systemtheorie Luhmanns mit seiner Präferenz fürs Beobachten anstelle von Eingreifstrategien mindestens unzeitgemäß, wenn nicht reaktionär. Die Provokation bestand darin, daß Luhmanns Soziologie nicht auf der Basis empirischer Daten operierte. Gesellschaft bestand Luhmann zufolge aus Kommunikationen. Die Frage nach „Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie“, so ein Aufsatzband von 1971, der als Habermas-Luhmann- Debatte weit über die soziologischen Fachkreise hinaus für Aufsehen sorgte, entschied Habermas als legitimer Nachfolger der Kritischen Theorie Frankfurter Provenienz scheinbar für sich. Luhmanns Gegenrede, Habermas repräsentiere eine emanzipationskonservative Richtung innerhalb der Soziologie, verhallte weitgehend ungehört.

Niklas Luhmann, ohnehin mehr dem Text als wettkämpferischen Debatten verpflichtet, führte, allen gängigen Diskursmoden zum Trotz, den vielgliedrigen Ausbau seiner Systemtheorie fort, deren erstes Hauptwerk „Soziale Systeme“ erst 1984 erschien und zu dem der Spiegel treffend bemerkte: „Die Systemtheorie startet durch“. Luhmanns mächtiger, letztlich universalistischer Versuch, Gesellschaft umfassend zu beschreiben, basiert auf einer Theorie sozialer Differenzierung, in deren Zentrum die Aussage steht, daß nicht alles mit allem zusammenhängt, sondern sich Funktionssysteme wie Politik, Recht, Wirtschaft, Kunst, Religion, Liebe, Erziehung und Wissenschaft nicht nur getrennt voneinander beschreiben lassen, sondern daß sie auch nicht aufeinander angewiesen sind. Im Gegenteil, die Teilsysteme sind in hohem Maße zur Selbststeuerung in der Lage, und diese Fähigkeit ist eine Voraussetzung gesellschaftlicher Freiheit und Leistungsfähigkeit. Die oft als Arbeitsteilung der Gesellschaft beschriebene Ausdifferenzierung erlaubt hohe Spezialisierung, weil nicht immer gleich der ganze Mensch zur Disposition steht, sondern seine Funktionsrolle innerhalb des jeweiligen Teilsystems. Ob jemand zu sportlichen Höchstleistungen in der Lage ist, ist vor Gericht gleichgültig, und wer arm ist, darf trotzdem wählen.

Was zunächst unter dem Verdacht stand, auf ein reibungsloses Funktionieren von Gesellschaft aus zu sein, erwies sich immer mehr als eine große Theorie der Inklusion, die nicht zuletzt danach fragt, was Gesellschaft zusammenhält. Zur Überraschung selbst ausgewiesener Luhmannianer hatte sich Luhmann 1995 in seinem Band über „Gesellschaftsstruktur und Semantik“ mit der sozialen Frage und der Fatalität der Technik beschäftigt.

Wer arm ist, darf trotzdem wählen

Dahinter stand die Beobachtung, daß immer mehr Menschen, beispielsweise in den Favelas Südamerikas und in den großstädtischen Slums aus allen Teilsystemen herausfallen. „Funktionssysteme schließen“, heißt es an einer Stelle, „wenn sie rational operieren, Personen aus oder marginalisieren sie so stark, daß dies Konsequenzen hat für den Zugang zu anderen Funktionssystemen.“ Zuletzt schloß die Luhmannsche Theorie, die sich einer operativen Kälte nie gänzlich hat entledigen können, zu drängenden sozialpolitischen Fragen auf.

Als großer Abschluß des Luhmannschen Gesamtwerks wird das 1997 erschienene zweibändige Buch „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ angesehen, in dem Luhmann nun das theoretische Gerüst hinterläßt, mit dem sich Gesellschaftswissenschaft in den kommenden Jahren befassen muß. Luhmann selbst war nie auf wissenschaftliche Schulbildung aus. Bis heute ist die Systemtheorie weitgehend ein Ein-Mann-Unternehmen, das erst in den letzten Jahren ein verläßliches Netz von Interpreten und Geistesverwandten geknüpft hat. Die selbstbewußte Langsamkeit, mit der Luhmann seine wissenschaftliche Arbeit auf dem Fundament eines längst berühmtgewordenen Zettelkastens aufgebaut hat, ist genügend anschlußfähig, daß aus dieser Richtung in den kommenden Jahren wichtige Beschreibungen von Gesellschaft erwartet werden dürfen.

Niklas Luhmann starb an den Folgen einer rätselhaften Erkrankung. Seit mehr als einem Jahr lebte er weitgehend zurückgezogen im Kreis seiner Familie. Harry Nutt