Wenn Bruder Schlafes große Stunde schlägt

■ Christoph Marthalers neue Inszenierung Stunde Null ab Freitag im Schauspielhaus

Die Zeit scheint ziellos zu schweben, die Welt verwandelt sich in eine fremdartige und doch allzu bekannte Mischung aus Warteraum und Kantine, Kathedrale und Fabrik. Menschen verweilen stumm, singen Lieder, vollziehen merkwürdige, langsame Rituale oder schlummern sanft dahin. Der Schweizer Regisseur und Musiker Christoph Marthaler verwandelt jedes Theater in eine kollektive Traumstation. Das Prinzip der Konfliktdramaturgie ist in seiner skurril-poetischen Bühnenkunst aufgegeben, und gerade deshalb begeistert und verstört er sein Publikum umso mehr.

Morgen hat sein neues Projekt Uraufführung im Schauspielhaus: Stunde Null oder die Kunst des Servierens, so der Titel eines Abends „über die Zeit zwischen 0 und 50 nach 45“.

„Es ist gar nicht möglich, einen Theaterabend über die Stunde Null zu machen, die es nie gegeben hat“, so Marthaler. Seine „Frau Stunde Null“ wird von Eva Brumby gespielt und ist eine ganz alte Serviererin. Mit ihr befinden sich sechs Führungskräfte, ein heimatloser Alliierter, ein Saalpianist und ein Saaldiener in einem Bunker oder Sendesaal. Dort geben sie deutsches Liedgut zum besten – und deutsche Reden aus der Nachkriegszeit und von den Gedenkfeiern dieses Jahres. Doch es ist kein dokumentarischer Abend über die Zeit nach 45, die Texte sind teilweise verfremdet. „Wir setzen an, wo das Verdrängen begann: Es wurde in all diesen Reden nie erwähnt, was wirklich geschehen ist. Es wurde nur gesagt, wie arm und traurig man ist“, erläutert der Regisseur das „Projekt über das Gedenken und über die Verdrängung des Erinnerns durch das Gedenken“.

Dramaturgin Stephanie Carp ist wieder Co-Autorin, Anna Viebrock, die Frau mit den rätselhaft-assoziationsreichen Räumen, ist stets die kongeniale Bühnenbildnerin für Marthalers vieldeutig-abstruse Theaterspiele.

In der Stunde Null spielt auch das Clowneske, das Slapstickartige wieder eine wichtige Rolle. Und außerdem noch der Schlaf auf der Bühne, Christoph Marthalers Spezialität: „Es ist ganz bestimmt kein trockener Abend, sicher ist er auch sehr verwirrend. Es sind ja auch haarsträubende Behauptungen. Da werden einige Leute sagen: Das geht nicht, das ist geschmacklos. Am Ende versinkt der Abend in sich selber, wir konnten es wieder nicht lassen, daß am Ende geschlafen wird. Das hat damit zu tun, daß gewissen Dinge heute wieder einschlafen...“

Niels Grevsen

Premiere am 20. Oktober, 20 Uhr, Schauspielhaus