Wohldosiert rasant

■ Donnernder Applaus für Zirkus Gosh auf Kampnagel

Das Bad ist natürlich besetzt, das schmuddelige Sofa wirft Staubwolken, und leere Bierflaschen erinnern an die letzte Fete. Ein ganz normaler Morgen in einer ganz normalen WG. Lustvoll stürzt sich Gosh, eine vierzehn-köpfige Gruppe aus Musikern, Schauspielern, Clowns und Artisten, in diese Unordnung.

Gosh ist in der englischen Umgangssprache ein Ausruf der Überraschung, etwa zu übersetzen mit ,Mein Gott'! Und bei ihrer neuen Show Shak Edi Bobo, die gestern auf Kampnagel Premiere feierte, kann man sich solche Überraschungsausrufe nur sehr schwer verkneifen.

Also ein ganz normaler Morgen: Der Keyboarder zuckt mit den Schultern und schlurft mit seinem Kulturtäschchen von dannen. Die drei Musiker, Bassist, Geiger und Drummer, reiben sich den Schlaf aus den Augen. Und der barock-livrierte Tänzer Ramon Fernandez versucht schon eine ganze Weile, Joseph einen wichtigen Brief zu übergeben. „Joseph, hast du deiner Mutter geschrieben?“ droht es aus dem Off, und dann bricht das von Regisseur Michel Dallaire sauber geplante Chaos los: Uli Brand schmettert mit raumsprengender Stimme fetzige Rocksongs ins Mikro, zwei Artisten verheddern sich – nach klassischem Vorbild, aber wunderbar neu inszeniert – in einem giftgrünen Trainingsanzug. Sabine Rieck und Martin van Bracht, bekannt als „Die Kempovskys“, fegen quer durch den Raum und halten die Zuschauer mit virtuosen Artistik-Einlagen in Atem.

Wer Ruhe und Überschaubarkeit auf der Bühne bevorzugt, ist bei Shak Edi Bobo im falschen Stück. Hier gibt es keine Handlung im herkömmlichen Sinne, alle Darsteller sind während der zwei Stunden auf der Bühne und halten überzeugend ihre Charaktere durch. Sie spielen verrückte, bunte, chaotische Wesen aus einer reizvollen Zwischenwelt. Der kanadische Regisseur Michel Dallaire schafft es hinreißend, das Prinzip der Parallel- und Dreifachnummern auf der Bühne durchzuführen. Und jeder macht alles: Uli Brand singt vom Trapez, Artistin Sabine Rieck bricht unter Tränen zusammen, weil die Musik so herzzerreißend ist, und Drummer Marcus Greiner fliegt am Ende unter die Decke.

So heben die acht Artisten und sechs Musiker aus Berlin die klassischen Rollen auf. Sie stolpern wie zufällig in ihre Kunststücke und überraschen mit scheinbaren Pannen. Die sture Erwartungshaltung, nur glatte und perfekte Körperbeherrschung vorgeführt zu bekommen, wird wohldosiert gestört. Und immer wieder erstaunt, belustigt und rührt die Choreographie. Die Kunst der rasanten Übergänge innerhalb der Parallel-Aktionen läßt nicht eine Sekunde Nachlässigkeit bei den Zuschauern zu.

Die Gruppe Gosh kam Anfang 1990 in Berlin zusammen. Die deutsch-französische Künstler-Gruppe wollte eine unkonventionelle Varieté- und Zirkusshow entwickeln. Daß sie ihre Ideen hervorragend umsetzen konnten, hat der gestrige Abend bewiesen. Das begeistetre Publikum war nach donnerndem Applaus nur schwer aus dem Saal zu bekommen.

Franziska Becker

Weitere Aufführungen: 19.-29. Oktober, täglich außer Montag und Dienstag, 20:00 Uhr (K6)