Mitten in Europa

Von wegen ungarisches Mallorca: Impressionen von einer Reise nach Kötcse und Nagycsepely, zwei Dörfer südlich des Plattensees  ■ Von Balduin Winter (Text) & Theodor Oberheitmann (Fotos)

Den Walkman angestöpselt und im Ohr Schuberts Impromptus, die Klaviatur mitteleuropäischer Melancholie. Der komfortable ungarische Eurocity „Liszt Ferenc“ zieht schnell dahin, vorbei an Györ, an Tatabnya.

Ich blättere in einem dünnen Band, „Veränderungen. Vltozsok. 1975-1995. Fotografien aus einem ungarischen Dorf“. Vorangestellt ist eine schematische Karte Ungarns, zwei große schwarze Punkte für Wien und Budapest, im Südwesten der langgestreckte Balaton, südlich von ihm ein kleiner Punkt: Nagycsepely, ein 420-Seelen-Dorf. Über und unter der Karte zwei Fotostreifen von der Dorfstraße.

Beim ersten Sehen drängte sich gleich ein „typisch“ auf – typisch ungarisches Provinzkaff, typisch Mitteleuropas schmuddeliger Charme. Aber mit dem „typisch“ wird ein Erkennen vorgetäuscht, das sich der Erzählkraft der Bilder verschließt.

Mein „typisch“ rührt aus einer Kindheit zwischen Kukuruz und Kürbis in der Südsteiermark, Weinberge da und dort, vergleichbar mit Westungarn, dieser damals so schwer erreichbaren Region. Denn dort, wo ich aufwuchs, waren Grenzen Alltag. Vielleicht kommt daher das Verlangen, diese Grenzen zu überschreiten, hinüberzugehen zu den abgeschnittenen Nachbarn und Verwandten, zu den Menschen auf den Fotos, zu Frau Ilonka Kovcs, zu Herrn Gyula Papp oder zur Familie Lipt.

Derweilen donnert der Zug durch die Vorstädte der Hauptstadt. Die Verkehrsader Wien-Budapest ist der Ausläufer des reichen Westens nach Ungarn hinein, eine Aorta, die, so scheint es, das Herz des Landes durchfließt und einen wilden Taumel von Lärm und Lichtreklamen hinterläßt.

Ganz anders die Bahnlinie nach Slowenien und Kroatien, die am Balaton vorbeiführt. Zwar verkehren auch hier internationale Züge, vom slowakischen Kosice nach Zagreb, von Budapest nach Ljubljana. Aber es ist eine Arme-Leute- Strecke, die Züge sind noch mit Achtsitzabteilen aus Plastik ausgestattet, und es macht wenig aus, wenn man eine Station nicht mitbekommt, der Fernzug hält alle zehn Kilometer.

Und dann der Plattensee, der wunderschöne. Dicht verhüttelt das schilfige Ufer, Bratwurst, Zimmer frei, Spaten-Bier, ungarisches Mallorca. Ein Besuch lohnt sich allein schon wegen der Art und Weise, wie sich die Seegemeinden in rührend altmodischen Prospekten präsentieren, lokale Geschichte und Kultur.

Gyula Bereck beispielsweise, Bürgermeister der Gemeinde Szrsz, legt dem Besucher das Museum des linken Arbeiterdichters Attila Jozsef ans Herz. Ich stelle mir eine entsprechende Tourismuswerbung zu Starnberg oder Westerland vor. Und wenn Gyula Vörös, Bürgermeister von Szld, den Gästen gute Erholung und angenehme Abwechslung wünscht, „so daß Sie von Ihrem Urlaub mit schönen Erinnerungen heimkehren“, dann ist das keine Floskel. Hier, fünf Kilometer vom Plattensee südwärts, existiert tatsächlich noch eine andere Welt.

Im Bus von Szrsz nach Kötcse werde ich von den Schulkindern neugierig gemustert, ins Hinterland verirren sich selten Fremde. Den beiden Dörfern an den bewaldeten Somogyer Bergen, Kötcse und Nagycsepely – kleine Gemeinden mit 650 beziehungsweise 420 Einwohnern – fehlt jegliche touristische Infrastruktur. Zwei Kneipen, aber keine Mahlzeiten, es kommen fast ausschließlich Dorfbewohner zum Umtrunk. Gegessen wird daheim. Keine Hinweise auf vermietbare Zimmer, keine Touristeninformation, kein Camping, kein Fitneß-Studio, nicht einmal markierte Wanderwege oder ein Hinweisschild auf das Schulmuseum in Kötcse. Kein Wunder, ist doch der Bürgermeister kein Fremdenverkehrsmanager, sondern hauptberuflich Tierarzt.

Malerisch die Landschaft; schon während der Busfahrt regt sich der Wunsch umherzustreifen, ohne festes Ziel, die verlehmten Straßen durch die Dörfer zu schlendern, zum Talende zu wandern, vielleicht durch Eichenwälder auf den Hügelkamm, einen Fahrweg zwischen im Winde knatternden Kukuruzfeldern folgen oder die Häuser betrachten, zumeist kleine Bauerngehöfte – das Haus mit der Schmalseite zur Straße, verlängert durch Schuppen und Ställe für Schweine und Hasen, selten Kühe. Im Hof selbst Einzäunungen für das Federvieh, Gemüsegärten, Salat und Sellerie, Bohnen und Paprika, Kürbisse und Blumen.

Häufig sieht man holzeingefaßte Zugbrunnen mit eisernen Trommelrädern an der Seite, die meisten verfallen, denn die Ortschaften haben längst ein Wasserleitungsnetz. Steinerne Bögen mit Holztoren vor kleinen Grashügeln: das sind die Weinkeller. Eine Treppe führt steil in die Tiefe, wo die Fässer lagern. An Hauswänden aufgehängt sind Bündel von roten Pepperoni, Knoblauchzöpfe und Mais.

FreundInnen des einfachen Landlebens, Anhänger der vormodernen Dorfidylle – hier sind sie richtig, hier ist das Dorf noch wirklich Dorf. Idyllisch die verrostenden Maschinen in den Gärten, idyllisch der geplatzte Verputz und die ausgeschlagenen Ziegel an den Häuserecken, idyllisch die mit Draht am Zaun befestigte, aufgeschnittene Plastikflasche, in die die Post gesteckt werden kann. Es sind arme Dörfer. Die Landwirtschaft reicht kaum zum Leben. Außer ein paar Handwerkern gibt es keine Betriebe.

Die Arbeitslosigkeit, so erzählt mir der Bürgermeister Gyula Feldeny, ist hoch. Viele suchen während der Saison Arbeit am nahen Balaton, aber die Saison ist kurz, sie dauert nur vom Juni bis Mitte September. Den größeren Teil des Jahres sind die Saisonarbeiter arbeitslos. Und in den Städten, in Sifok, Szkesfehrvr, Kaposvr? Er winkt ab, erstens ist das alles so weit weg, und zweitens haben viele Betriebe dichtgemacht. Die Chancen, Arbeit zu finden, sind einfach düster. Viele versuchen es dennoch, verkaufen Haus und Grund und wandern ab.

Tatsächlich findet man oft Schilder an Zäunen befestigt mit dem Hinweis: „elad“ – zu verkaufen. Und wer kauft? Ausländer, antwortet Feldeny und betont gleich das gute Zusammenleben. Hier in Kötcse sind bereits 42 Häuser in deutscher und österreichischer Hand. Natürlich entstehen dadurch aber Probleme. Der Grundstückpreis schießt in die Höhe. Und was für Ausländer aus dem Westen eine Kleinigkeit ist, wird für viele Ungarn nun unerschwinglich.

Außerdem sinken die Einnahmen, denn nur für die ständig Angemeldeten, also für die echten Einwohner, erhält die Gemeinde staatliche Zuschüsse. Aufgrund des Rückgangs mußten kürzlich die Gemeindesteuern erhöht werden – schlimm für beide Seiten.

Einst lebten hier viele Deutsche, erzählt der Historiker Zoltan Tefner. Im 18. Jahrhundert wurden sie aus Hessen und aus deutschen Ortschaften in Südungarn hierher gebracht, um das von den Türkenkriegen verwüstete und fast menschenleere Land zu besiedeln. Juden, Kroaten, Roma, Deutsche und Ungarn bewohnten damals die Region. Viele Kroaten, die Beamtenlaufbahnen einschlugen, assimilierten sich freiwillig. Die Ungarndeutschen wurden nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 in mehreren Wellen magyarisiert. Zoltan zeigt mir im Gemeindehaus ein altes Foto seiner Urgroßmutter, die noch deutsch sprach.

Viel geblieben ist nicht von dieser bunten Bevölkerung. Ein paar Roma wohnen in Nagycsepely – ein Gehöft abseits vom Dorf, bewacht von zwei ungemein kläfffreudigen Hunden; alte Schulbücher im liebevoll installierten Schulmuseum von Kötcse, in denen noch deutsche Namen zu finden sind; alte Fotos und Erinnerungen; kroatisch klingende Namen auf Grabsteinen wie Kacskovics oder Tsoncsics. Hier gab es auch ein „Cheder“, eine jüdische Schule.

Einmal wurde die Bevölkerung aufgerufen, alte Fotos ins Gemeindehaus zu bringen, berichtet der Bürgermeister. Sie wurden fotografiert und vergrößert, eine Ausstellung aus rund 800 Aufnahmen entstand daraus. Und eine Monografie. Manches Wiedererkennen gab es da, manche rührende Szene, wenn die Bewohner ihre Verwandten oder sich selbst auf den Fotos anderer wiederfanden.

Eine andere Vergangenheit erschließt sich auf einer Wanderung von Nagycsepely in die Berge. In einem sanften Talschluß stehen die verfallenden Gebäude einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, wo Rinderzucht betrieben wurde. Das Strohdach der Unterstände ist eingesunken, alte Heuballen, aus denen Gras sprießt, liegen herum, in den Gebäuden riecht es nach Moder. Die Zäune auf den Weiden sind vermorscht. Keine Menschenseele, nur Bussarde kreisen.

Am letzten Tag, ein warmer Vormittag im Oktober, wandere ich in die Hügel bei Kötcse. Mais und Klee, an den Südhängen Wein, die Lese ist im Gange. Vor einem der vielen Preßhäuser sitzt eine Familie von Oma bis Enkelkind. Sehr lebhaft und fröhlich geht es zu. Als ich vorbeigehe, rufen sie. Ein junger Mann nähert sich, reicht mir aus einer Butte eine große Traube mit kleinen süßen Weinbeeren. Ob ich mich zu ihnen zum Essen setzen möchte? Diese Freundlichkeit. Leider fährt mein Bus in einer Stunde, ich muß zurück. Die andere Zeit hat mich gleich wieder. Und im Zug werde ich mich wieder an Schuberts mitteleuropäische Impromptus anstöpseln.

Balduin Winter lebt als freier Autor in Fürth.

Theodor Oberheitmann ist freier Fotograf und lebt in Witten.