Bewegliche Profile

Einst hatte die Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik den Ruf einer roten Kaderschmiede. Heute gilt sie als eine der profiliertesten und modernsten Unis. Denn sie war stets gezwungen, sich neu zu erfinden. Hintergründe zum 50jährigen  ■ von Reinhard Krause

Ganz einfach ist die Suche nicht. Im städtebaulichen Wirrwarr auf dem Hamburger Campus hat die Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP) keinen prominenten Standort bekommen. Das Wandbild auf der Stirnseite des schlichten Sechziger-Jahre-Gebäudes sticht dafür um so mehr ins Auge: eine nostalgische Großstadtszene mit einer Synagoge im Hintergrund. Dazu ein Text über Trauer, Trost und einen blitzeschlagenden Cherub: „Nicht einschlafen lassen die Blitze der Trauer / Das Feld des Vergessens / Wer von uns darf trösten?“ Ungewöhnlich für eine Hochschule, an der Betriebs- und Volkswirte, Soziologen und Diplomjuristen ausgebildet werden.

Über Hamburgs Grenzen hinaus bekannt geworden ist die HWP als „Hochschule des zweiten Bildungswegs“. Lange war sie die einzige deutsche Hochschule, die auch – und überwiegend – für Nichtabiturienten offenstand. Unter den Absolventen finden sich viele Namen mit Klang: Der frühere SPD-Vorsitzende Björn Engholm hat hier studiert, Niedersachsens Ministerpräsident Gerhard Glogowski (SPD) und auch Hans-Olaf Henkel, Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. In einem Aufsatzband zur fünfzigjährigen Geschichte der HWP heißt es: „Die Zugehörigkeit zu der einzigen Hochschule in ganz Deutschland, an der man erlittene oder auch selbstverschuldete Benachteiligungen durch einen gemeinsamen Kampf um das Recht auf Bildung wieder wettmachen konnte, schweißte zusammen, auch über das Ende des Studiums hinaus.“ Trauer, Vergessen, Trost? Seilschaften?

Ihrem linken Profil zum Trotz ist die HWP immer für antikonservative Überraschungen gut gewesen. Die letzte hochschulpolitische Kurskorrektur wurde erst jüngst nötig. Die HWP, 1993 in den Rang einer Universität erhoben und seit 1991 mit Promotions- und Habilitationsrecht ausgestattet, mußte Anfang der neunziger Jahre einsehen, daß die Zahl der Studienbewerber ohne Abitur drastisch rückläufig war und sich die Quotierung von sechzig Prozent Nichtabiturienten unmöglich länger aufrechterhalten ließ.

„Eine schwierige Situation“, erläutert Sigrun Nickel, Referentin für Hochschulentwicklung an der HWP. „Das unverwechselbare Profil der Hochschule drohte verlorenzugehen.“ Und damit die Existenzberechtigung als eigenständige Universität. Auch der Lehrbetrieb litt: „Der Numerus clausus für Bewerber mit Fachhochschulreife war irgendwann so hoch, daß hier nur noch Leute mit unglaublichen Wartesemestern waren oder mit einem Schnitt um 1,3. Und die trafen dann auf Nichtabiturienten, die aufgrund ihrer günstigen Quote mit einer Aufnahmeprüfungsnote von 4,0 hier reinkamen.“ Die Quoten wurden schließlich getauscht. Daneben begann die Suche nach einer neuen hochschulpolitischen Identität – ohne die eigene Geschichte zu verleugnen.

Und die Historie kann sich sehen lassen. Zu den Dozentender ersten Stunde gehörte der Soziologe Helmut Schelsky; Gründungsrektor war der spätere sozialdemokratische Wirtschaftsminister Karl Schiller. Am 15. November 1948 wurde der Lehrbetrieb aufgenommen. Der Name damals: „Akademie für Gemeinwirtschaft“ (AfG). Der Gründungsgedanke basierte auf der Vorstellung eines „dritten Wegs“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Aufgabe der Akademie sollte es sein, den Führungsnachwuchs von Gewerkschaften und Genossenschaften auszubilden.

Vorstellungen von einer linken Kaderschmiede, einer „Hochschule des Sozialismus“ gar, hatten sich allerdings schon bei der Einweihung der Akademie – ein halbes Jahr nach Einführung der Marktwirtschaft – überlebt. Es bedurfte allerdings großer Anstrengungen, bis Gewerkschaften und Genossenschaften es tatsächlich schafften – und das auch nur für wenige Jahre –, die Hälfte der Studierenden zu stellen.

Kurz danach, Mitte der fünfziger Jahre, mußten die Gründerväter eingestehen, daß das Konzept einer Hochschule für die Genossenschafts- und Gewerkschaftsbewegung gescheitert war – wegen mangelnder Nachfrage. Das Augenmerk der Akademie wandte sich fortan weniger virtuellen Studenten zu: den Volksschülern mit Berufserfahrung, die in Führungspositionen der Privatwirtschaft strebten. Der Begriff von der Hochschule des zweiten Bildungswegs sollte für die nächsten Jahrzehnte die HWP prägen.

Die Zahl der Pflichtsemester ist im Lauf der Jahrzehnte angestiegen – wie auch der Qualifizierungsgrad der Abschlüsse. Die Unterrichtsfächer des Studienjahres 1948 entsprechen indes noch der heutigen Ausrichtung der HWP: Volks- und Betriebswirtschaftslehre, Soziologie und Rechtswissenschaft. Der „verschulte“ Unterricht und eine späte Spezialisierung auf einen der Studienbereiche führten dazu, daß Interdisziplinarität – unerläßlich für Manager, Entscheidungsträger modernen Typs – an der HWP stets großgeschrieben wurde. Besonders befruchtend war zudem, daß hier Studenten mit Abitur auf solche mit Praxiserfahrung trafen. „Hier studierst du mit Leuten, die aus dem Bankgewerbe kommen oder aus der Wirtschaft. Das erweitert den Horizont“, sagt eine 36jährige gewerkschaftsbewegte Soziologiestudentin, „einmal soll es hier sogar einen Studenten gegeben haben, der kam vom Geheimdienst.“

Mochte auf dem Universitätscampus auch über die Nachbarn von der „Hochschule für Doofe“ gefrotzelt werden – auf dem Arbeitsmarkt waren HWP-Absolventen aufgrund dieser Praxisnähe stets frappierend gut zu vermitteln – unabhängig davon, ob sie Abitur hatten oder nicht.

Die zweite Identitätskrise der HWP kam mit der Öffnung der Universitäten für Nichtabiturienten – damit stand ihre Exklusivität auf dem Spiel. Aber auch die angespannte Arbeitsmarktsituation machte sich in den vergangenen Jahren deutlich bemerkbar. HWP-Profilerin Sigrun Nickel: „Das Risiko, alles stehen- und liegenzulassen, den Job aufzugeben und sich in ein Vollzeitstudium zu stürzen, um hernach vor einer ungewissen Zukunft zu stehen, ist vielen zu groß.“

Um für die frühere Hauptzielgruppe weiterhin attraktiv zu bleiben, wurde im vorigen Sommersemester ein Teilzeitstudiengang eingeführt. Hier können Halbtagsjobber binnen zehn Semestern einen Diplomabschluß erwerben, für den in einem Vollzeitstudium eine Regelstudienzeit von sechs Semestern veranschlagt wird. Zusätzlich dazu wurde ein von der EU unterstütztes berufsbegleitendes Weiterbildungsstudium eingerichtet. Auch der Forschungsbereich, in den zurückliegenden Jahren eher ein Stiefkind im HWP- Betrieb, ist zu neuem Leben erweckt worden: Pro Jahr wird ein Forschungsprojekt ausgewählt, das für drei Jahre mit jeweils 50.000 Mark und einer Doktorandenstelle ausgestattet wird.

All die Veränderungen der letzten Jahre sind das Ergebnis eines umfangreichen Profilbildungsverfahrens und eines Evaluationsprozesses, zu dem die HWP externe Fachleute herangezogen hat. Als besonders vorteilhaft erwies sich hierbei, daß sich die gestaffelten Abschlüsse der HWP – nach sechs Semestern ein Diplom als Betriebs-, Volks- oder Sozialwirt, nach neun Semestern ein Universitätsabschluß als Diplomsozialökonom – hervorragend mit internationalen Standards eines Bachelor- und eines Master-Abschlusses koordinieren lassen.

Durch die Zusammenarbeit mit fast dreißig internationalen Partner-Unis wurden die Berufschancen der HWP-Absolventen auf internationaler Basis zusätzlich erhöht. Die Quote an Absolventen eines Jahrgangs, die mindestens ein Semester im Ausland studieren, liegt an der HWP mit zwanzig Prozent deutlich über dem Durchschnitt. Die Studenten freilich sehen ihre Möglichkeiten pragmatisch. „Studieren in Turin oder Chicago – schön und gut. Aber ohne Stipendium läßt sich das nicht realisieren“, sagt eine 32jährige VWL-Studentin, im früheren Leben Zahntechnikerin. Einigkeit herrscht über den hohen Grad der Verschulung: Nur wenige Studierende fühlen sich durch den strikten Lehrplan eingeengt.

Der ebenso weitreichende wie langwierige Reformprozeß zu einer Hochschule, die sich den Erfordernissen des Arbeitsmarktes stellt, stieß nicht bei allen Lehrenden auf Zustimmung. Vor allem von traditionslinker Seite wurde Kritik laut, die neue HWP stelle mittlerweile die Vorhut des Neoliberalismus dar. Einziges Reformziel sei gewesen, die Hochschule auf kapitalistischen Mainstream zu trimmen.

Gleichzeitig läßt die finanzielle Ausstattung der HWP sehr viele Wünsche offen. Mit nur achtzig Lehrenden bei 2.500 Studenten ist Hamburgs kleinste Uni am schlechtesten ausgestattet. Die Raumauslastung liegt bei zweihundert Prozent, und auch die Eigenwerbung, in Hamburg die kostengünstigsten Studienplätze anzubieten, kaschiert letztlich nur charmant, daß der Hamburger Senat in diesem Bildungsbereich kräftig spart.

Trotz solcher Erschwernisse präsentiert sich die HWP im fünfzigsten Jahr ihres Bestehens als attraktives Hochschulmodell: als ein bewegliches und sich sich selbst korrigierendes System. Daß die Wandelbarkeit der HWP allerdings nur auf ihre Überschaubarkeit zurückzuführen sei, läßt HWP-Sprecherin Sigrun Nickel nicht gelten: „An großen Hochschulen scheut man wohl die organisatorische und inhaltliche Mühe, Lehre und Forschung selbst zu definieren. Weil wir als Hochschule immer auch umstritten und deshalb gefährdet waren, konnten wir uns diese Bequemlichkeit nie leisten.“

Reinhard Krause, 37, ist Redakteur im taz mag