Die Masse macht's

Vor allem samstags werden sie zu modernen Orten der Geselligkeit – die Filialen der Modekette H & M. Dort trifft man meist junge Menschen. Warten an der Kasse, Hektik in den Umkleidekabinen – Ungemütlichkeiten solcher Art gehören zum Kauferlebnis dazu. Zugeschaut hat ihnen dabei  ■ Benjamin v.
Stuckrad-Barre

Es ist Samstag, es ist voll, es ist warm, es ist Neon, es ist ganz schön was los bei H & M. Hier kleidet sich nämlich Deutschland ein. Oder geht noch jemand zu C & A? Nein. Denn H & M ist zwar billig, aber, so hört man, trotzdem ganz in Ordnung. Auf H & M können sich alle einigen, billiger und verhältnismäßig trendiger geht es gar nicht. Hier kauft die neue Mitte ihre Anzüge und die alte Avantgarde ihre Cordhosen. Es gibt sehr gute Unterwäsche, und zwar für alle Gelegenheiten: von Spitze bis Frottee...

Hier entfacht sich unter Jung- und erst recht Erstverliebten der erste Streit mit ehelichen Dimensionen: „Die Unterhose sieht bestimmt sexy bei dir aus.“ – „Dann seh' ich doch wie'n Affe aus.“ – „Spießer.“

Zu kaufen gibt es nur Kleider der Hausmarken, die zielgruppenspezifisch angelegt sind. Der Filialleiter – im blauen Anzug, Hausmarke, natürlich – erklärt: „,Rocky', das ist so Streetwear, eben für die Skater ungefähr. Dann haben wir ,Impulse', das ist rein fraulich, ein bißchen Techno, Basic, aber auch Blazer, die dann allerdings topmodern. ,Mama' ist für Schwangere, ist ja klar, und ,BIB', das heißt ,big is beautiful', das ist dann eher, na ja, für die etwas fülligeren Mitmenschen.“

Ein Einkauf bei H & M ähnelt einem Freßanfall, berichten Bulimiker. Man geht, besser: wird geschoben durch die Gänge, zunächst ohne konkrete Kaufabsicht. Dann steht man plötzlich in der Schlange vor dem Umkleidetrakt und hat fünf „Teile“ im Arm. Von denen dürfen nur fünf in die engen Kabinen mitgenommen werden. Davor gibt es von einer überforderten Fastfachkraft eine Plastikkarte, beschriftet mit einer Zahl von 0 bis 5, damit man auch mit genauso vielen Teilen aus der Kabine wieder rauskommt.

Wer aber geht mit null Artikeln in eine Umkleidekabine? Das sind die begleitenden Freundinnen, die beratend zur Seite stehen und dann mal schnell eine andere Größe holen und einen so davor bewahren, in kaum mehr als der eigenen Unterhose durch den Laden hüpfen zu müssen.

Die große Menge der zur Anprobe zusammengesammelten Kleiderberge ist nicht allein mit den niedrigen Preisen erklärt: Außerdem sind die angegebenen Größen bei H & M-Artikeln eher unverbindliche Richtwerte – da probiert man mehrmals, bis eine Hose zumindest beinahe paßt. Deshalb riechen die Sachen auch wie im Secondhandladen; schon zwanzig Menschen haben in diesen Teilen zuvor schwitzend vor dem Spiegel gestanden und eingesehen: „Neee, oder?“

Ein oft gehörtes Gegenargument ist: „Ach komm, kostet ja nur zwanzig Mark!“ Hört man sonst in Umkleidekabinen höchstens mal jemanden furzen, so sind sie bei H & M ein Ort der Kommunikation. Einer, wo es scheppert und summt wie auf dem Jugendherbergsflur, eine Minute vor Licht aus, schnatter, schnatter.

Das Geheimnis der Kette und ihres Erfolgs ist somit zunächst einmal: keines.

Denn alles liegt ja offen. Und simpler geht es auch nicht: Die Einkaufs- und Trendhechelgewohnheiten der jungen Menschen wurden analysiert und professionell in Gestaltung des Ladens, Personalstruktur und Einkaufsmodalitäten übersetzt. Die 0-Karte ist so ein Beispiel.

Auch die Preisgestaltung stimmt; hier wird knapp kalkuliert. Auch die Mitarbeiter passen: keine spröden Herrenausstatterlehrlinge, die einem mit kippender Stimme devot „weiterhelfen“ wollen, sondern bloß Schüler und Studenten, deren erste Qualifikation die ist, von der Stammkundschaft kaum unterscheidbar zu sein.

H & M ist prima unsentimental und vor allem schnell. Trends werden hier nicht ge-, sondern besetzt. Erste Anzeichen werden flugs von weltweit agierenden und notierenden Scouts gemeldet. Schon eine Stunde später wird geschneidert (auf Masse!) und kurze Zeit später aufgebügelt. Aufbügeln, das ist H & M-Mitarbeiter-Slang und hat überhaupt nichts mit Bügelbrett und –eisen zu tun – es bedeutet lediglich, daß Kleidung auf multifunktionale Bügel geklemmt oder gehängt wird. Denn zum Bügeln bleibt keine Zeit, auch wenn es durchaus angebracht wäre, da die Kleidungsstücke vor dem Verkauf über ziemlich viele Unterhemden (bestenfalls!) anderer Menschen gezogen werden.

Und wenn etwas dem Personal einmal allzu unneu erscheint, sagt der Filialleiter, „wird es halt abgeschrieben“. Also weg damit oder noch mal runter mit dem Preis. Gebügelt, so der Vorsteher dieses Ladens, wird „nur bei den ganz hochwertigen Artikeln“. Somit fast nie. Die Mitarbeiter haben trotzdem genug zu tun: „80 Prozent der Arbeitszeit biste am Zurücksortieren. Wenn den Leuten was nicht paßt oder doch nicht gefällt, schmeißen sie es einfach so irgendwohin oder hängen es falsch wieder auf“, haspelt eine junge Dame, die spricht, wie sie zu arbeiten gehalten ist: schnell und etwas schludrig. Parallel zu unserer Unterhaltung fischt sie ein paar Unterhosen aus der Sockenkiste, die da ja nun wirklich nicht hingehören.

Zwar ist H & M immer modern (im Sinne von aktuell), jedoch nicht elitär. Zunächst mal wird Hipness, also Trendbewußtsein, qua Masse und Preis demokratisiert. Zugleich wird diese Hipness aber auch abgeschafft. Denn was ist Hipness sonst als elitäre Abkapselung?

Aber die Zugangsberechtigung zum bloßen Modematerial ist ja erst mal von Vorteil, könnte man meinen. Doch merkwürdigerweise erscheinen einem all die Stammkunden, obschon fast zu hundert Prozent in Waren des Hauses gewandet, überhaupt um kein Kleidungsstück besser gekleidet als andere Menschen.

Nehmen wir mal so ein Frotteeoberteil. Es ist hellblau, und dann hat es auch noch Streifen, eine Tasche und einen Schriftzug. Man nimmt es von der Stange und hält es prüfend gen Neonhimmel. Sieht gut aus, noch. Dann aber: Waschmaschine und Mainstream, die beiden Probleme. Erstens geht das Ding recht bald den Weg alles Stofflichen, und zweitens haben es alle anderen auch an, und damit ist es schon nicht mehr ganz so schön. H & M ist gut für den Stoffwechsel.

Die Schlange vor den zahlreichen, zu solchen Stoßzeiten wie einem Samstagvormittag natürlich niemals ausreichenden, inzwischen säuerlich duftenden Kabinen windet sich durch den ganzen Laden. Den älteren Einkäufern ist das alles jetzt zuviel, sie raffen bloß noch beidarmig große Bündel zusammen, bezahlen – und probieren die Teile erst zu Hause an.

„Umtauschen ist ja kein Problem, da sind wir sehr kulant“, schnurrt die Frau an der Kasse und zerrt dabei mindestens drei Kleidungsstücke gleichzeitig von Bügeln, die sie hinter sich in eine Wanne schleudert. Eine H & M-Schlange ist nichts als ein Fließband, das sprechen kann. Es sagt: „Oh, ich habe doch nur 40 Mark, das eine Oberteil lasse ich dann hier.“ Oder: „Los, ich kaufe mir die Hose in Dunkelblau, da wird Yvonne sich ärgern.“

Ernst, wenn auch nur kurz, wird es dann an der Kasse, doch EC-Karten liegen ja heutzutage der Geburtsurkunde bei, und so hört man Zwölfjährige besonnen ihre Zukunft zerstören: „Ich zahle am liebsten immer mit Karte, dann merkt man das nicht gleich so.“ Ein Zeichen des Wohlfühlens beim Kaufen? Gewiß. Dazu trägt vielleicht auch die Schrift bei. Die Mitarbeiter der schwedischen Bekleidungskette lernen eigens eine H & M-Schrift, mit der sie „Sweatshirt 19,90 DM“ auf Pappschilder schreiben. Die Schrift, sagt der Filialleiter, geht so: „Irgendwie von unten, so ein bißchen kursiv.“ Zwar einheitlich, aber eben auch handgemacht, „nah am Kunden“.

Kurz vor Ladenschluß. In den Kabinen ist es nun nicht mehr sauber. Beim Kleidungswechsel fällt den Menschen allerlei aus den Taschen, und selbst wenn sie es bemerken, lassen sie es liegen – ist ja eh Müll. Spickzettel zwischen den Kabinen mit binomischen Formeln, lateinischen Deklinationsbeispielen. Und Nahverkehrstickets, denn Samstag ist „Stadttag“ für die Vorstädter.

Da wird dann auch viel geklaut. Erst ab 14,90 Mark aufwärts sind die Artikel mit Sicherungsetiketten versehen, die Amateurladendiebe abschrecken, „für Profis jedoch ein Witz sind“, merkt der Filialleiter an. Da kann man nichts machen. Bis auf die Detektive. Oder die Doormänner.

Ein Wort, ein Typ: Doormänner. Deren Beruf klingt nicht nur, die sehen auch aus wie Dobermänner. Die Ladendetektive dagegen sind gut getarnt. Wieder in der Schlange. Stillstand. Kasse kaputt. Kaum Gemurre. Warten gehört dazu. Wer es reibungslos will, kann ja zu C & A gehen. Nun geht nichts mehr an der Kasse.

Irgendwann sieht man es dann ein, daß man da wohl nie wieder rauskommt. Man steht also bei H & M, mitten am Samstag, die Menge wogt und schiebt einen so herum, und man hat einen Haufen neuer Dinge in der Hand und die Uhr im Nacken, und dann wird plötzlich alles egal. Auch die ersten Zweifel: Saß das wirklich? Hat das nicht schon die und der? Wollte ich nicht sparen? Man steht so da, und die Hitze wallt in einem herauf, und da zahlt es sich dann aus, wenn man auf das Materialetikett geschaut hat, beim letzten Einkauf.

Teenagergestank hat ja nichts mit Deo- Überschätzen zu tun, sondern liegt meistens schlicht am Synthetikpullunder oder so. Bügel liegen am Boden, Verkäuferinnen in der Kurve – und Musik in der Luft. Die gehört dazu. Über der Kasse (die einem Schützengraben gleicht, auf den es von allen Seiten eindringt und einquatscht und einzahlt) hängen in einem Rahmen die CD-Cover jener Platten, die von Plattenfirmen zur Verfügung gestellt wurden.

Erwartbare Sampler mit dem, was sonst bei Viva läuft, daneben Erstaunliches: John Lennon zum Beispiel. Zwangsläufigkeit aber auch: Natalie Imbruglia. Kordhose, Haarspange, Schlupfpulli – Schulmädchenrapport! Im Video sieht Frau Imbruglia wirklich wie von H & M erdacht aus. „Hier kaufen sich alle die Basics!“ patscht sich der Filialleiter in die Hände.

Basic Instinct. Dann piept es an der Tür. Der Doormann schnappt zu.

Bernd Arnold, 37, hat in Dortmund Fotodesign studiert. Er arbeitet als Fotograf in Köln und ist Mitglied der Agentur Visum

Benjamin v. Stuckrad-Barre, 23, ist Autor der „Harald Schmidt Show“ in Köln; kürzlich erschien sein Roman Soloalbum, Kiepenheuer & Witsch 1998, 16,90 Mark