Shoppen für die Seele

Die Liebe zu den Waren, zum Schaufensterbummel oder überhaupt zum Konsum steht bei alternativ Gesinnten unter Generalverdacht. Sich dem Kaufrausch hingeben tut man erstens als aufgeklärter Mensch nicht, und wenn, dann zweitens höchstens kritisch und durchdacht. Sich einfach nur mal etwas Schönes zu gönnen gilt als unmoralisch. Eine Kritik dieser

sauertöpfischen Haltung

von Jan Feddersen

Mit solcher Entrüstung hatten sie nun wirklich nicht gerechnet. Selbst Joschka Fischers feine Antennen für die moralischen und damit politischen Abgründe der Republik versagten. Wenige Monate vor den Bundestagswahlen verabschiedete die Partei einen Beschluß, mit dem sie doch nur Gutes tun wollte, vor allem für die Umwelt, an der den Deutschen doch so viel liegt. Fünf Mark sollte nach Meinung der Parteiökos das Benzin in zehn Jahren kosten.

Verstanden hat die Verve des Protests im grünen Spektrum auch bis heute so recht niemand. Parteiintern sprachen die einen von einem medialen Vermittlungsproblem; andere trösteten sich verschwörungstheoretisch mit der Idee, eine Allianz aus ADAC und Gerhard Schröder habe das Volk zum Schäumen gebracht. Gott sei Dank, heißt es inzwischen, eingebunden in rot-grüne Regierungsdisziplin, hat uns das Volk eben gerade über die Fünfprozenthürde gehievt.

Tatsächlich hatten die Grünen – und nicht erst seit dem Magdeburger Beschluß – das kulturelle Fundament der Republik unterschätzt. Es ist vor allem ein proletarisches, eines, das seit Ende des Zweiten Weltkrieges und mit der Amerikanisierung des deutschen Alltags darauf baut, daß niemand für höhere Zwecke (Glaube an Führer, Volk und Vaterland) leben soll, sondern vor allem für sich selbst.

Es war der „Traum vom guten Leben“, so der Bremer Technik- und Wirtschaftshistoriker Arne Andersen, der die Deutschen zivil werden ließ – zu einer Gesellschaft von Shoppern. Und sie lernten erst nach der NS-Zeit unter amerikanischem Patronat, daß es nicht lohnt, einen höheren als einen privaten Sinn zu verfolgen.

Und der Lohn sollte nicht gering ausfallen. Strikt kapitalistisch war die Orientierung. Man wollte so gut und bequem leben, wie der Adel und die bürgerliche Klasse es vormachten. Man wollte reisen, sich schön einrichten, gut anziehen, die Frauen sollten mehr als einen Ehering geschenkt bekommen – und man wollte mobil sein. So wurde das Automobil, meist ein Volkswagen, zum zweiten Herz der Deutschen. Mit einem solchen Gefährt nicht mehr abhängig sein von Fahrplänen, muffigen Schaffnern und von Omnibussen, die doch nicht ganz ans Ziel fahren – das war und ist attraktiv.

Der Benzinpreisbeschluß, so sehr er sachlich vielleicht auch gerechtfertigt sein mochte und so (alt-)klug er begründete Alternativen zum Individualverkehr mitdachte, ging den Deutschen wirklich an die Nieren – solch eine Partei, so schien es, stellt zur Disposition, was die arbeitende Bevölkerung seit 1945 zu schätzen gelernt hat: Unabhängigkeit im Lebensgefühl. An dieser unerschütterlichen Befindlichkeit der demokratischen Nation zerschellte im übrigen auch jedes andere Anliegen der Grünen, vor allem das auf Konsumverzicht.

Aus der Atomenergie auszusteigen fand in Meinungsumfragen schon vor zehn Jahren Mehrheiten. Auch das Recht auf doppelte Staatsbürgerschaft ist vermutlich nicht erst jetzt unanstößig. Wer hat schon ernsthaft etwas gegen Solarenergie oder einen deutschen Nachbarn mit Vornamen Gumhur, dessen Vorfahren aus Kurdistan stammen? Wer würde sich nicht mit der Sache der Frau einverstanden erklären? Hauptsache, der Nachkriegskonsens wird nicht angetastet: die Chance, an der Warenwelt teilhaben zu können.

Was die Grüne Partei seit ihrer Gründung in der Nische hält, ist ihr zitronensaures Unverständnis für die Lust am Konsum, für das Shoppen an und für sich. Die entgegengesetzte Haltung garantiert Union und Sozialdemokratie indes ihren Status als Volksparteien: besitzstandswahrend, zukunftsfroh und überwiegend frei von moralischen Zumutungen – zum Beispiel, doch weniger fernzusehen und lieber ein gutes Buch zur Hand zu nehmen.

Allerdings haben die Grünen das meiste ideologische Gepäck inzwischen fallengelassen. Nicht nur, um den Weg an die Macht zu ebnen, sondern vor allem aus Einsicht, daß die meisten Menschen aus dem Ökomilieu ebenso gerne konsumieren wie der gewöhnliche Wirtschaftswunderbürger der fünfziger Jahre. Nur mag man sich die Wohlstandswonnen und den teuren Geschmack nicht so gern öffentlich eingestehen. Der neue Außenminister Joschka Fischer reagiert bemerkenswert undiplomatisch, wenn er auf seine ungrüne Lust an feinen Textilien angesprochen wird. „Ich bin früher auch nicht in Baströckchen rumgelaufen und habe meine Blöße mit Blättern abgedeckt.“

Was heute alle eint – und was der jüngst verstorbene Konsumkritiker Rudolf Bahro ungnädig zu geißeln pflegte –, ist das Verlangen, es sich gutgehen zu lassen, seine und ihre höchstpersönlichen Schäfchen ins trockene zu bringen.

Selbst eine charismatische Politikerin wie Petra Kelly hatte es sich in ihrem Bonner Reihenhaus mit elektrischen Geräten – Kaffee- und Waschmaschine – komfortabel eingerichtet. Strenggenommen kam diese Ausstattung einem Bruch gleich mit dem grünen Größenwahn, alles selbst und alles per Hand zu verrichten. Solch evangelische Strenge ging allerdings selbst hartgesottenen Grünen zu weit.

Aber was Bahro, Kelly & andere Fundis nicht verstehen konnten, war, daß es ihnen immer möglich war zu konsumieren, ihre Tantiemen stimmten. Erst aus dieser Position heraus konnten sie verzichten lernen. Für die meisten Deutschen ging es in den fünfziger Jahren jedoch darum, sich von erzwungener Nachhaltigkeit zu verabschieden. Was zählte, war, sich möglichst oft etwas Neues zu kaufen: Vergeudung im besten Sinne. Dafür mußte gearbeitet werden, viel sogar, um wenigstens einen Teil jener Annehmlichkeiten erwerben zu können, die für die bürgerliche Klasse selbstverständlich waren.

Daß die Reisen der Kleinkonsumenten nur nach Österreich führten, ihr Schmuck billig war und zu aufgemotzt getragen wurde, ihre Möbel Gelsenkirchener Mief verströmten und ihre gastronomischen Gelüste sich auf „viel und günstig“ beschränkten, machte sie als Kinder ihrer Klasse weiterhin erkennbar.

Aber darum ging es nicht. Es ging um die Demokratisierung des Luxus.

Noch in einer unkonventionellen Werbung des Henkel-Konzerns aus den achtziger Jahren, in der behauptet wurde, die Waschmaschine habe mehr Frauen Emanzipation verschafft als alles sonst, klang an, auf welche Weise Frauen freie Räume für ihren Kampf um die Geschlechterfrage auch hinzugewinnen konnten: Während der Kessel Buntes in der Maschine vor sich hin rotierte, hatte die Hausfrau Zeit, sich ein Leben zu überlegen, das mehr enthalten könnte, als nur der Familie zu dienen.

Konsum stiftet Identität. Im Berliner Bezirk Neukölln verfügt vor allem eine soziale Gruppe über die technisch bestausgerüsteten Haushalte: die türkischen Einwanderer. Sie sind die Konsumavantgarde, testen aus, kaum sind neue Geräte auf dem Markt, was taugt und was nicht. Ob nun Satellitenschüssel, Video, Handy, Mikrowelle, Eierkocher, Lockenstab oder das 16:9-Bildformat-taugliche TV-Gerät: Wer die neuesten Errungenschaften sein eigen nennt, kommt in der neuen Welt an. Er zeigt: Wir haben es geschafft. Wir gehören dazu. Wir sind modern.

Die frühere Konsumkritik hat in diesem Sinne immer versagt. Als typisch deutsch empfanden US-Soldaten im Nachkriegsdeutschland die Mahnung – gerade von Theologen –, nicht nur auf Fettlebe zu setzen. Es seien Handlungen, die von der schuldhaften Verstrickung mit dem NS- Terror ablenkten, ein Nachdenken durch einen zu vollen Bauch unmöglich gemacht. Selbstbewußt hielten die US-Beobachter diesen verzweifelten Kritikern entgegen, daß Reue nicht funktioniert, wenn nicht gleichzeitig Belohnung lockt.

Und der Plan, der bewußt nie gefaßt wurde, ging ja auch auf: Die Deutschen lernten über den Konsum fremde Früchte und Gemüse kennen; sie reisten, inzwischen sogar in alle Welt, ohne Tornister auf dem Rücken zu tragen. Ihr einziges Gepäck: Koffer, später ergänzt durch Fotoausrüstungen, Golfschläger. Und fast immer anständig gekleidet, um ja nicht als Deutscher übel aufzufallen. Das gefiel dem Ausland. Der Deutsche hatte Geld und Manieren. Außer toskanisch inspirierten Intellektuellen mokiert sich niemand über die weißen Socken in Sandalen, wenn sie von deutschen Touristen im Ausland getragen werden.

Die moderne Konsumkritik, am populärsten vorgetragen vom Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, trug dem warengierigen Proletariat nach, daß es nicht auf die Karte der Revolution setzte und sich damit ihrer eigentlichen Bestimmung verweigerte. Statt dessen hatte das einfache Volk an bürgerlichen Formen des Müßiggangs – auch wenn er aus Kostengründen pauschal gebucht wurde – Gefallen gefunden.

Überhaupt hat der gemeine Lohnempfänger in den vergangenen vierzig Jahren kapiert, daß erst für den Konsum zu arbeiten lohnt. Alles, was vor hundert Jahren nur den gehobenen Einkommensklassen zu erwerben vergönnt war, steht ihm nun prinzipiell auch bereit.

Neue Möbel kosten kein Vermögen mehr – was den Erfolg von Ikea erklärt; Mode ist erschwinglich geworden – erst materialisiert durch die Jeans, später handelskettenmäßig fundiert durch Kaufhausketten und Boutiquen wie C & A und H & M, markiert durch Markenlabel wie Wrangler, Diesel, CK, Tommy Hilfiger, Levi's, Chevignon oder Benetton.

Daß diese Produkte nie für die Ewigkeit gefertigt wurden und oft nur eine Saison hielten, veranlaßte die Linke zu dem bitteren Vorwurf, die Bundesrepublik sei auf dem Weg zu einer Wegwerfgesellschaft. Auch diese Kritik stieß überwiegend auf taube Ohren. Selbst wenn die Textilien von H & M nur einige Monate halten – na und? Heute heißt es sowieso: Unser Wohnzimmerschrank darf gerne in zehn Jahren hin sein.

Das Argument, der wahre Luxus sei, Zeit zu haben, klingt in den Ohren von Arbeitslosen höhnisch. So redet nur, wer schon alles hat, inklusive Internetanschluß und die Putzfrau für vier Stunden die Woche. Zeit zu haben ist Luxus – wenn man sonst keine hat. Zeit beispielsweise, um einkaufen zu gehen. Und Gott sei Dank haben die Geschäfte mittlerweile meistens bis abends zur „Tagesschau“ geöffnet. Eine Errungenschaft, wie alle Konsumenten meinen. Nun macht es den Gewerkschaften Kummer, daß kaum jemand daran interessiert ist, diese Liberalisierung der Konsumzeiten zurückzunehmen.

Selbst die Grünen nicht wirklich. Wie auch? Zwar werden zuweilen noch pflichtschuldig die neuen Arbeitszeiten der Verkäuferinnen bedauert. Doch schon seit Jahren genießen auch sie es, in London, New York oder Barcelona bis in den späten Abend hinein zu bummeln. Sie wissen, daß es Spaß macht, sich etwas zu gönnen. Ein Prolet würde sagen: „Nur vom Allerfeinsten.“

Ihnen muß der Soziologe Heinz Bude zugehört haben. Der pries in einem Interview mit der Zeitschrift Der Alltag die Lust am Konsum als anthropologische Konstante, als schon immer dem Menschen innewohnend. Shoppen sei die Kunst, „es sich etwas nett zu machen“. Jeder, der schon mal ein Schnäppchen erstanden hat, weiß das nachzufühlen; jeder, der ein Päckchen Salz im Kaufhaus erwerben wollte und mit einem schönen Pullover, womöglich als Sonderangebot, herauskam, kennt dieses wohlige Gefühl ebenso.

„I shop therefore I am“ – Ich kaufe, also bin ich. Dieses Zitat aus der Yuppieszene der achtziger Jahre wurde als Autoaufkleber an britischen Tankstellen massenweise verkauft. Am liebsten kauften es Besitzer eher billiger Automobile. Die hatten offenbar noch viel in ihrem Leben vor.

Jan Feddersen, 41, ist Redakteur im taz.mag