Stabilität statt Drogenkarriere

Morgen machen vier Jugendliche in Hamburg ihren Hauptschulabschluß – sie alle konsumierten in ihrem früheren Leben Heroin  ■ Von Elke Spanner

Mathe, Deutsch, Englisch – was in der Regel den Alltag von Kindern und Jugendlichen prägt, war für Silvia F. (Name geändert) lange Jahre unbekanntes Terrain. Schon mit 13 hatte sie ihren Platz auf der Schulbank gegen einen in der Drogenszene am Berliner Bahnhof Zoo eingetauscht. Saßen ihre ehemaligen MitschülerInnen über den Hausaufgaben, versuchte Silvia, Geld für Heroin, Kokain oder andere Drogen aufzutreiben. Gingen die anderen abends in der elterlichen Wohnung zu Bett, suchte Silvia sich erst ihren Schlafplatz.

Daß sie sich von ihrem früheren Leben endgültig abgewandt hat, wird morgen mit einem schriftlichen Zeugnis dokumentiert: Zusammen mit drei weiteren Jugendlichen, die im „Come In“, der therapeutischen Einrichtung für suchtkranke Kinder und Jugendliche des Trägers „Therapiehilfe e.V.“, leben, wird sie ihren Hauptschulabschluß ablegen. „Für alle vier“, so Nicole Schmidt vom Verein „Therapiehilfe“, „ist das der erste Erfolg ihres Lebens überhaupt.“

Seitdem das „Come In“ Ende 1994 erstmals die Möglichkeit zum Schulabschluß bot, haben hier 23 Jugendliche die Hauptschule absolviert, vier die Realschule. Sieben sind an weiterführende Schulen vermittelt worden, wo einige sogar das Abitur machten.

„Die meisten Kinder mit Drogenkarrieren sind seit der sechsten oder siebten Klasse nicht mehr zur Schule gegangen“, sagt der Leiter des „Come In“, Laszlo Pota. „Sie müssen erst mal motiviert werden, überhaupt stillzusitzen. Anfangs haben sie große Konzentrations- und Leistungsstörungen.“ Die LehrerInnen im „Come In“ müssen deshalb zusätzlich eine suchttherapeutische Ausbildung haben. Abgelegt werden die Prüfungen dann extern vor der Schulbehörde.

Bei der Eröffnung des „Come In“ 1992 war die Einrichtung bundesweit die erste für suchtkranke Kinder unter 16 Jahren. Aufgenommen werden Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren. In einer ersten Phase sind die KlientInnen ausschließlich im „Come In“, verlassen die Einrichtung nur in ihrer Gruppe. „Wir schützen sie davor, daß sie in die Szene und deren Pseudo-Geborgenheit zurückkehren“, erläutert Schmidt. Sind die Jugendlichen stabilisiert, kommen sie in die „Reintegrationsphase“, in der sie zum Beispiel zur Berufsausbildung das „Come In“ tagsüber verlassen.

Die meisten drogenabhängigen Kinder, so Pota, „sind polytoxikoman“: Sie sind nicht auf eine Droge festgelegt, sondern nehmen, was ihnen in die Finger kommt. So auch Silvia: Über ein Jahr lebte sie auf der Straße, ehe sie nach einer Überdosis in der Psychiatrie landete – und sich anschließend für das „Come In“ entschied.