Das Portrait
: Versorgerin einer großen Familie

■ Klawdija Sapegina

Im Dorf Chruschtschowka, 400 Kilometer südlich von Moskau, heißt Klawdija Sapegina nur „Tante Klawa“. Ende Oktober hat die 72jährige eine ganze Woche lang geweint. Ende Oktober kommt nämlich immer ihr Schwiegersohn Valeri aus Moskau und schlachtet ihr jeweiliges Stierkalb und ihr jeweiliges Schwein. Von März bis Oktober sind die Tiere Klawas wichtigste Gesprächspartner. In Chruschtschowka wohnen nur alte Leute. „Unser Dorf ist winzig, aber zu jedem Grundstück kommen jeden Herbst viele hungrige Münder aus der Großstadt“, berichtet Klawa.

Sie bekommt Besuch von Tochter und Schwiegersohn aus Moskau, dazu die Enkelin mit ihrem Mann und der kleinen Urenkelin. Mit Klawa selbst profitieren sechs Personen von den Erträgen ihres ein Drittel Hektar kleinen Datschengrundstücks. Jedes Jahr kocht und salzt Klawas Tochter 150 Gläser ein: Äpfel, Johannisbeeren, Paprika, Kohl, Gurken, Kürbisse und Zucchini. „Wenn man so ein Glas öffnet, hat man praktisch schon den Tisch gedeckt. Man braucht sich nur ein paar Kartoffeln dazu zu braten“, erklärt die Landwirtin aus Leidenschaft. Natürlich baut Klawa auch die Kartoffeln an. Solche Privatgärten machen nur fünf Prozent des bewirtschafteten Bodens in Rußland aus, aber aus ihnen stammen über 90 Prozent der gesamten Kartoffel- und Gemüseernte Rußlands.

Tante Klawa, ist eine Teil- Großstädterin. Sie stammt vom Dorf, aber bis zum Tode ihres zweiten Mannes lebte sie in Moskau. Die drei schlimmsten Wintermonate übersteht sie noch heute dort bei der Tochter. Dann zieht es sie wieder nach Chruschtschowka. Die Landarbeit ist für sie nicht nur der beste Zeitvertreib, sondern liefert ihr in ihren Augen auch die Lebensberechtigung. „Ob meine Kinder wohl auch für mich sorgen werden, wenn ich nicht mehr arbeiten kann?“ fragt sie.

Bevor sie im November nach Moskau fährt, versichert sich Klawa immer, ob die Nachbarn in ihrer Abwesenheit auch die Hühner füttern, und kontrolliert ihre Einmachgläser mit Schlachtresten. Daraus wird sie im Frühling dem neuen Ferkel einen fetten Brei kochen. Trotz aller Trauer muß der Kreislauf des Lebens weitergehen. Denn noch versorgt Tante Klawa ein große Familie und ein wenig auch eine große Nation. Barbara Kerneck