Überleben gegen den Willen des Staates

Jahrelang haben sie in den USA in Todeszellen gesessen und auf ihre Hinrichtung gewartet, gegen das Verrücktwerden angekämpft. „Unschuldig Verurteilte“ trafen sich am Wochenende zu einer großen Konferenz  ■ Aus Chicago Max Boehnel

Wenn Joseph „Shabaka“ Green Brown spricht, dann lispelt er nur noch leicht durch das Loch im Kiefer. Geld für neue Zähne fehlt ihm zwar immer noch, aber er kann sich immerhin verständlich machen. Und peinlich ist es ihm auch nicht mehr. Vier Schneidezähne hatten ihm die Gefängniswärter ausgeschlagen, als sie ihn überwältigten. „Danach legten sie mir das Maßband um Brust, Taille und Beine an“, erläutert er, und seine Stimme bricht, „und nahmen Maß für meine Leichenanzug.“

Der heute 43jährige Afroamerikaner war einer derjenigen, die von Staats wegen auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet werden sollten. Shabaka saß seit seiner Verurteilung 1974 in einer Todeszelle in Florida, und dreizehn Jahre später wußte er, daß der Moment gekommen war. Sie hatten ihn zuvor in einem Trakt namens „death watch“ eingeschlossen. „Das ist eine Zelle exakt 30 Fuß vom elektrischen Stuhl entfernt“, erzählt er, „Es gab nur zwei Wege aus ihr heraus – in einer Kiste aus Kiefernholz oder wenn sie deine Hinrichtung aufschoben.“ In der Zelle, führt er aus, konnte man das Knistern hören, wenn die Techniker zweimal täglich den Stuhl testeten – für ihn, den Verurteilten.

Doch Shabaka überlebte. 13 Stunden vor seiner Hinrichtung wurde das Todesurteil aufgehoben. Das Berufungsgericht konstatierte ein Fehlurteil, und Shabaka durfte das weiße Leichengewand, für dessen Anprobe sie ihn zusammengeschlagen hatten, wieder ausziehen.

Noch heute hat er Schwiergkeiten, ohne Würgen im Hals von seinem Horrortrip zu erzählen, zu dem ihn gelangweilte Ermittlungsbehörden, geschmierte Polizeizeugen und ein falscher Zeuge verdammt hatten. Er war wegen Mordes, Vergewaltigung und Raub zum Tod verurteilt worden. „Ja“, sagt er, rückt sein Lederkäppi zurecht und legt den Kopf schief, „ich bin sehr, sehr sauer und verspüre sogar Haß. Wenn ein Weißer einen Schwarzen umbringt, landet er sicher nicht ,on death row‘ – im Todestrakt. Aber es gibt viele Shabakas im Gefängnis, und die meisten werden sterben müssen.“

Der wütende Mann, der an diesem Wochenende in Chicago einer von vielen ist, die ihre Geschichte erzählen, gehört zu den 74 Todeszelleninsassen, die seit der Wiedereinführung der Todesstrafe im Jahr 1976 wieder nach Hause geschickt wurden – im Durchschnitt einer von sechs „on death row“, die die US-Behörden seitdem wegen Justizirrtums entlassen mußten.

Niemand weiß allerdings, wie viele Menschen unschuldig in den USA hingerichtet wurden. Anwälte können keinen Fall mehr aufrollen, denn die Akten stehen nach jeder Urteilsvollstreckung unter Verschluß. 14 Menschen sollen noch bis Ende dieses Jahres mit der Giftspritze hingerichtet werden. Damit stünde die Zahl der Exekutionen seit Mitte der Siebziger bei 508. Nach der jüngsten Todesliste vom Oktober sehen 3.517 Häftlinge ihrem Hinrichtungstod entgegen. Wenn sie die Exekutionswelle schon nicht stoppen können, dann doch zumindest verhindern, daß es noch schneller geht. Das haben sich die Organisatoren der „Landesweiten Konferenz über Fehlurteile und die Todesstrafe“ vorgenommen. Die großen Menschenrechtsorganisationen, Mitglieder der US-Anwaltskammer, Angehörige von Jura-Fakultäten, Journalisten und Hilfsorganisationen für Gefangene haben beschlossen, die Öffentlichkeit für unschuldig zum Tode Verurteilte zu sensibilisieren. Ein schwieriges Unterfangen, denn die Mehrheit der US-Amerikaner unterstützt seit jeher die Todesstrafe.

Einer der fälschlich Verurteilten, die sich erstmals öffentlich treffen, ist Jay Smith. „Keine Berühmtheit wie der schwarze Journalist Mumia Abu-Jamal“, stellt er sich vor, obwohl er mit Mumia im Todestrakt Huntington/Pennsylvania saß. Der schlanke, hochgewachsene Mann mit grau gestreiftem Anzug und Krawatte ähnelt eher einem altmodischen Verwaltungsbeamten denn jemandem, der jahrelang in der Zelle auf den Tod warten mußte. Tiefe Furchen zeichnen das Gesicht des 70jährigen, und seine Hände zittern voller Aufregung. Aus einer alten Stofftasche kramt er Kopien von Ausschnitten aus Zeitungen hervor, die seinen Fall begleiteten.

Jay war Schulleiter einer High- School, wurde 1986 wegen dreifachen Mordes an einer Frau und ihren beiden Kindern zum Tode verurteilt und nach sechs Jahren Todeszelle wieder freigelassen. Die Ermittlungsbehörden hatten Beweise unterschlagen, die seine Unschuld nachwiesen, und Zeugen unter Druck gesetzt, die zu Jays Gunsten aussagten. Ein Anklagevertreter hatte einen Schriftsteller gegen Geld für ein Buchprojekt über den Fall mit „Informationen“ versorgt, und es wurde bekannt, daß ein „jailhouse snitch“, ein Knastspitzel, auf Jay angesetzt war. Der Supreme Court von Pennsylvania ordnete schließlich 1992 die Entlassung Jays an. Er war 2.329 Tage in der Todeszelle.

Jays zierliche Finger gleiten über die Seiten der Kopien, und dabei erklärt er, er sei der Einladung zur Konferenz gefolgt, um sich „endlich zu öffnen“. Denn die Jahre seit seiner Freilassung habe er ausschließlich damit verbracht, „zu lesen, auf Parlamentsabgeordnete einzuwirken und Mumia Abu-Jamal zu unterstützen“.

Das Leben im Todestrakt von Huntington sei gekennzeichnet vom Alter des Gefängnisses, 110 Jahre, sagt Jay. Die Behörden statteten Jay im Sommer wie im Winter mit dem grauen Todeszellen- Overall und weißen Latschen aus: bei 23 Stunden Einzelhaft und einer Stunde Hofgang unterhielt er sich mit fünf Büchern und einem Bleistift. „Wenn sie dich aus der Zelle führen“, starrt er vor sich auf einen imaginären Punkt, „dann bewegst du dich in Handschellen und einem Eisengürtel, während dich drei Wärter nicht aus den Augen lassen.“

Das Zelleninnere – eine gitterlose Minibehausung, deren Moderwände Ungeziefer beherbergte. Ein paar Ratten habe es gegeben, sagt Jay, aber am schlimmsten seien die Mäuse gewesen. „Die Ratten waren vorsichtig genug“, sagt er, während er seine Stimme fast ins Verschwörerische absenkt; „und entzogen sich menschlicher Wut.“ Die Mäuse tötete Jay mit einer einfachen Vorrichtung. Er befestigte ein feuchtes Handtuch an der Wand, klebte feuchtes Brot oder Nudeln – „die Biester mochten vor allem Nudeln“ – daran, und wenn sich ein Tier am Handtuch hochhangelte, klatschte er er es mit voller Wucht gegen die Wand. „Es ist ekelhaft“, schüttelt er sich, „aber in der Zelle wirst du zum Tier.“

Aber wie überlebt man die Einsamkeit in einer Todeszelle, ohne durchzudrehen, ohne Selbstmord zu begehen? Jay überlegt lange. Er verharrt regungslos, scheinbar ohne zu atmen. „Die ersten Wochen war ich völlig irre“, sagt er dann, „ohne Rhythmus, ohne Schlaf, völlig unausgeglichen. Doch später entwickelte ich die sogenannte Todeszellenroutine.“ Die Zelle – ein Bett, ein Spülbecken, eine Toilette auf engstem Raum – nutzte er für Sportübungen. Morgens abwechselnd ein Bein über das Spülbecken zur Muskelentspannung, und abends „Treppensteigen“ auf den fünf Büchern, die ihm zustanden.

„In deinem Gehirn ist aber immer präsent, daß sie dich im elektrischen Stuhl verbrennen werden“, unterbricht er sich schlagartig, als wäre er verbotenerweise vom Thema abgewichen, „denn die Wächter erinnern dich permanent daran.“ Und er erzählt von den Quälereien, mit denen sie ihn ärgerten, deprimierten – „und, ohne es zu wollen, wachhielten“, nickt er sich versonnen selbst zu: mit lauten Wetten um Dollars beispielsweise, ob Jay die kommende Woche noch leben würde, und mit anderen verbalen Gemeinheiten, die in ihrer Summe zur totalen Depression führen können.

Aber auch die Wärter haben Angst um ihr Leben. Todeszellenhäftlinge, die den Druck nicht mehr ertragen, richten Rachegefühle meist gegen die Schließer. „Bevor ich ermordet werde, nehme ich noch einen mit“, erklärt Jay den Brutalisierungsprozeß, den viele Insassen durchmachen.

„Die Zelle ist zwangsläufig nicht nur Mittelpunkt deiner physischen Existenz, sondern wird langsam auch zur Bezugsgröße für deine Gedanken“, führt er mit starrem Blick durch die Brille aus; „sie frißt sich in dein Gehirn und übernimmt es phasenweise.“ So habe er oft tagelang wie in Trance im Schneidersitz und ohne zu essen vor sich hingedöst mit der irren Vorstellung, die Zelle sei in Wirklichkeit ein Iglu, das unter der Last seiner Gedanken schmelzen und ihn in die Freiheit entlassen würde.

Zudem habe er zeitweise „die Sprache verlernt“ und unter Knastvulgaritäten wie „mother fucking“ und „fucking“ gelitten. Erst ein Jahreskalender mit Kalendersprüchen, das Geschenk eines seiner Brüder, habe ihm das Sprachgefühl wiedergegeben.

Jay wischt sich Tränen aus den Augen. „Die Erinnerung schmerzt zu sehr“, klagt er und entnimmt einer Dose eine weiße Pille. Er hält sich seit seiner Entlassung mit Tranquilizern funktionsfähig.

Eine Entschuldigung, geschweige denn Entschädigung hat keiner der 28 unschuldig verurteilten Überlebenden, die sich auf dem Podium der Chicagoer School of Law versammelt haben, erhalten. „Wenn der Staat sich durchgesetzt hätte, wäre ich heute tot“, sprechen sie in die Kameras der großen Fernsehsender. Shabaka und Jay umarmen sich und weinen. Niemand kann ihnen die gestohlenen Jahre zurückgeben. Aber sie leben.