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Nur ein kranker Jelzin ist ein guter Jelzin

Der russische Präsident hat sich von der politischen Bühne weitgehend abgemeldet. Gerhard Schröder trifft heute nur noch das Phantom eines Staatschefs. Indes hat niemand in Moskau ein Interesse an seinem Sturz  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Die letzten Staatsbesuche in den ehemaligen Sowjetrepubliken Mittelasiens führten es im Oktober aller Welt vor Augen: Boris Jelzin ist gesundheitlich am Ende und nicht mehr belastbar. Für Gerhard Schröder wird sich der kranke Mann wieder einmal aufraffen. Doch das heutige Gespräch des Bundeskanzlers mit Jelzin in Moskau dürfte sich in protokollarischen Floskeln erschöpfen. Der Mann im Kreml ist nicht mehr handlungsfähig. Die Präsidialkanzlei fand sich zuletzt damit ab, den Chef in einem Sanatorium von Ärzten überwacht wegzuschließen und bis zu den nächsten Wahlen zu konservieren. Entscheidende Kompetenzen wie die Verantwortung für die Wirtschaftspolitik sind vom Präsidenten auf die Regierung übergegangen. Unverdrossen behauptet nur noch Jelzins Tochter und persönliche Beraterin Tatjana Djatschenko: „Papa geht es blendend“.

Die Familie, Jelzins Fluchtburg, fürchtet Racheakte der Opposition. Im Parlament läuft ein Amtsenthebungsverfahren. Jelzin wird zur Last gelegt, mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 Hochverrat begangen zu haben. Ein anderer Anklagepunkt ist der Krieg in Tschetschenien. Sollte Jelzin aufgrund des Verfahrens seinen Posten verlieren, droht ihm sogar strafrechtliche Verfolgung.

Doch soweit wird es wohl nicht kommen. Im Gegenteil, es mag paradox klingen: Der auf Machterhalt fixierte alte Jelzin mit seinen Launen und erratischen Personalentscheidungen wirkte innenpolitisch eher destabilisierend, was ihn letztlich das Szepter kostete. Der senile und einsame Präsident indes kann zum Garanten der Verfassung, der politischen und wirtschaftlichen Freiheiten der Bürger avancieren. Er hat sogar Chancen, als solcher von den politischen Akteuren und den Bürgern gleichermaßen akzeptiert zu werden. Nach einem Putsch steht keinem der Sinn.

Jelzins Gegner haben das Bestmögliche erreicht. Die Opposition wertete die Rolle des Parlaments auf, die Regierung gewann ein weiteres Stück Unabhängigkeit hinzu. Und die Wirtschaftsmagnaten, die die Krise am Ende überstehen, brauchen keine lästigen Interventionen mehr zu fürchten. Vielmehr garantiert der Präsident sogar noch ihre Eigentumsrechte.

Und die Bevölkerung? Sie wird den kranken und im Stich gelassenen Jelzin, der sich vom zürnenden Zaren zum zittrigen Zaungast verwandelte, bald wieder in ihr Herz schließen. Schwamm drüber, man ist in Rußland nicht nachtragend. Gedemütigte halten zusammen. Das Impeachment scheint daher nur ein Bluff, inszeniert, um das radikale Fußvolk der Kommunistischen Partei (KPRF) zu befrieden. Denn die Kommunisten wünschen keine vorgezogenen Neuwahlen. Die Lenkung des lecken Staatsschiffes zu übernehmen, liefe auf politischen Selbstmord hinaus.

Alles hängt davon ab, ob Jelzin physisch bis zu den Wahlen noch durchhält. Zumindest würde er dann als Wegbereiter politischer und wirtschaftlicher Freiheiten doch noch in die Geschichte eingehen. Keine geringe Leistung in Rußland, die die Historie sicherlich höher bewertet, als es das gegenwärtige Chaos vermuten läßt.

Jelzin war nicht der kongeniale Staatsmann, der das Land zu lichten Ufern führte. Auch nicht Platons Demiurg, dem ein universalistisches Muster vor Augen schwebte, wonach er sein Reich hätte gestalten wollen. Als Rußland Jelzin 1996 wiederwählte, hegte keiner Illusionen, der Präsident könnte noch einmal einen Reformschub bewerkstelligen.

Man war für russische Verhältnisse ungewöhnlich nüchtern. Den Status quo sollte er gegen eine kommunistische Revanche verteidigen. Zwei Jahre später sehen sich die Bürger getäuscht. Jelzins Inkonsequenz, die Duldung von Filz, Korruption sowie die Verflechtung von Politik, Militär und Kapital – wie in Staaten der Dritten Welt – haben Rußland an den Abgrund getrieben. Die Wirtschaftskrise hat nun auch noch weiten Teilen der kleinen, dem Wandel aufgeschlosseneren Mittelschicht die Existenzgrundlage entzogen. Wenig trug der Pantokrator dazu bei, der politischen Kultur und dem notorisch schwach ausgebildeten Rechtsbewußtsein auf die Beine zu helfen. Stattdessen wuchs der Beamtenapparat von einer Million zu Sowjetzeiten in der Ära Jelzin auf 1,7 an, und trotzdem leistete der Staat immer schlechtere Dienste. Reform und Staat fielen nur kurz in der Aufbruchphase 1992 zusammen. Danach bediente sich auch Jelzin in Krisenmomenten überkommener Machtprinzipien, die dem Arsenal des Zarismus und Kommunismus entlehnt waren. Nicht anders als es seine Opponenten auch getan hätten.

Nur griffen die Maßnahmen nicht mehr. Die differenziertere Gesellschaft und die heterogenen Eliten des Riesenreiches schotteteten sich gegenüber der ohnehin erodierenden Macht des Zentrums ab. Ungewollt öffnete Jelzin der Opposition die Hintertür. Doch der Weg zurück ist auch ihr verstellt, weil sich die Masse der Menschen verändert hat. Eins hat sie zumindest gelernt: Erwarte nichts vom Staat, hilf dir selbst. Das ist unbenommen Jelzins Verdienst. So zynisch es klingt.

Die Entwicklung von Staat und Gesellschaft verlief in Rußland immer gegenläufig. Modernisierungsschüben von oben begegnete eine meist widerwillige Gesellschaft, deren ungezügeltes Streben nach Autonomie am Ende die Lenkbarkeit des Staates gefährdete. Staatsaufbau und Entwicklung einer selbstbewußten Kommune fanden nie zum Gleichklang. Auch Jelzin ist daran gescheitert. Ungerecht, wer ihm allein die Schuld anlastet, denn der erschöpfte Kremlherr verkörpert in Wesen und Biographie Rußlands Drama beinah idealtypisch.

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