Innenansichten des bösen Blicks

■ Wenn Bindungen zu Fesseln werden: Lydia Mischkulnigs Erzählungen über das ödipale Dreieck und seine Deformationen

Lydia Mischkulnigs neues Buch hat kein Inhaltsverzeichnis, obwohl es sieben Erzählungen versammelt, und es trägt einen Titel, der die Einheitlichkeit des Ganzen unterstreichen soll. Tatsächlich sind diese „sieben Versuchungen“ sehr unterschiedlich, und man würde, handelte es sich um eine reife Autorin, deren biographische Daten man kennt, sagen, daß sie vom literarischen Entwicklungsgang der Lydia Mischkulnig zeugen. So aber hat man sich auf die Feststellung zu beschränken, daß das Buch zwei Gesichter zeigt: einerseits spielerische Sprachkritik, die eine erzählerische Glätte verhüllt, andererseits beunruhigend drängendes Erzählen in gefälligem Sprachkleid.

Die ersten vier Texte der „Sieben Versuchungen“ demontieren sprachliche und gesellschaftliche Stereotype, sie sprengen den Sinn der abgegriffenen Sätze auf, spielen mit Ein- und Mehrdeutigkeit, machen die Bilder drastisch. Sie dienen dem bösen Blick der Autorin, der die Schäbigkeit der Figuren – meist Künstler, Freiberufler, Modernisierungsgewinner – denunziert. In den letzten drei Erzählungen, die zwei Drittel des Buchs ausmachen, wendet sich ihr Blick mehr nach innen: Jeder könnte betroffen sein, nicht nur die anderen, auch ich, auch die Autorin. Diese Texte pulsieren, sie sind von bewundernswerter erzählerischer Kraft, und sie beunruhigen, weil die Widersprüche, die sie erörtern, nicht aufgelöst werden können.

Mischkulnig bleibt auch hier einer Thematik treu, die ihr Roman „Hollywood im Winter“ bewußt plakativ ausgestellt hatte. Zeugungs- und Gebärvorgänge, Geburten und der hinter jeder Geburt lauernde Tod, Bindungen, die zu Fesseln werden – das ewige ödipale Dreieck und seine zahllosen Deformationen.

Mag sein, daß der Blick der Autorin nun weniger böse ist, aber klar ist er immer noch und vielleicht in der Differenziertheit klarer als im Zorn und „wilden Arrangement“ der Sätze. Aus Satire ist Ironie geworden, eine Art der Infragestellung, die auch das Selbst betrifft. Eine der Figuren, sie ist Künstlerin, berichtet von ihrer Ausbildung: „Ich saß in der Anatomievorlesung und zeichnete Hände. Von innen und außen, oben und unten, nah und fern, bis ich sämtliche Handhaltungen anatomisch korrekt aus dem Gedächtnis wiedergeben konnte, als es darum ging, einen eigenen Stil zu finden und jede Korrektheit zu eliminieren, bevor man sie wieder ausgrub und die großherzige Schlamperei der Jugend in Ordnung brachte.“ Korrektheit und Schlamperei, beides hat Lydia Mischkulnig hinter sich gelassen. Leopold Federmair

Lydia Mischkulnig: „Sieben Versuchungen“. Erzählungen. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1998, 270 Seiten, 34 DM