Ein Fall für moralische Prinzipientreue

Der PDS-Bundestagsabgeordnete Heinrich Fink war IM, stellte einst ein Gericht fest. Nun soll seine Stasi-Mitarbeit noch einmal im Bundestag untersucht werden. Doch Abgeordnete fragen sich: Wem ist damit gedient?  ■ Von Patrik Schwarz

Berlin (taz) – Es gibt Leute, aus deren Mund klingen selbst hohe Worte nicht zwangsläufig hohl. Jörg van Essen gehört wohl zu dieser Art Mensch. Wenn er von der Verantwortung gegenüber der Geschichte spricht, wird seine Stimme eher leiser als lauter. An die deutsche Geschichte denkt der FDP- Bundestagsabgeordnete seit ein paar Tagen häufiger, und das liegt an Heinrich Fink.

Bis 1991 war Fink Rektor der Ostberliner Humboldt-Universität, ehe er wegen Stasi-Vorwürfen entlassen wurde. Seit drei Wochen sitzt Fink als PDS-Abgeordneter im neuen Bundestag. Van Essen hat bereits im Vorfeld gefordert, den Parlamentsneuling einer eher unangenehmen Behandlung zu unterziehen: der Stasi-Überprüfung „von Amts wegen“, soll heißen, eine Überprüfung auch gegen Finks Willen. Nach 1945 habe man die Augen lieber verschlossen vor der Verstrickung so vieler Deutscher in eine Diktatur. „Das will ich mir nicht vorhalten lassen“, sagt van Essen, der vor seinem Einzug ins Parlament als Staatsanwalt an der juristischen Aufklärung von NS-Verbrechen mitwirkte.

Im letzten Bundestag gehörte van Essen dem Immunitätsausschuß an, der bereits Gregor Gysi überprüfte, und wenn ihn seine Fraktion erneut dorthin entsendet, wird er den Antrag gegen Fink stellen. Doch die Reaktionen seiner Kollegen im Ausschuß sind auf den ersten Blick bizarr. Die Vertreter der beiden großen Fraktionen SPD und CDU befürworten einhellig Finks Stasi-Überprüfung – und ebenso einhellig erklären sie, daß das Verfahren nichts bringe.

„Irgendwie sinnlos“, nennt es Willfried Penner, Innenexperte in der SPD-Fraktion, schließlich stehe längst fest, daß der frühere Hochschullehrer für die Stasi tätig gewesen sei. Bestenfalls werde man „Offenkundiges noch offenkundiger werden lassen“. „Wir werden da nix machen können, außer daß man es noch mal zu Papier bringt“, meint auch Clemens Schwalbe, parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU- Fraktion. „Das bedeutet Mühe für den Ausschuß, Belastung für den betroffenen Abgeordneten und ein Ergebnis, das nichts Neues bringt“, findet der bisherige und mögliche neue Ausschußvorsitzende Dieter Wiefelspütz (SPD). Zumindest ein Grund für den Defätismus der Parlamentarier läßt sich klar benennen: ihre Erfahrungen mit Gregor Gysi. War der PDS-Politiker Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi? Mit juristischen Einsprüchen und Klagen hatte Gysi es verstanden, die Klärung dieser Frage durch den Immunitätsausschuß Jahr um Jahr zu verzögern. Als schließlich die Ermittler stolz den Abschlußbericht präsentierten (die Mehrheit sah Gysis Stasi-Mitarbeit als erwiesen an), war ihre Enttäuschung groß. Mit klarem Sinn für politische Realitäten hatte das Publikum erkannt, daß der Bericht der Ermittler keine Konsequenzen zeitigte. In Bonn kostet der Nachweis der Stasi-Mitarbeit niemanden das Mandat. „Wir haben uns ja selbst für diese Machtlosigkeit entschieden“, sagt van Essen, den die pragmatischen Bedenken seiner Kollegen im Ausschuß nicht anfechten. Ihm geht es im Fall Fink um Prinzipientreue, nicht Privilegienentzug. „Es ist eine moralische Sache“, findet auch der CDU-Vertreter im Ausschuß, Clemens Schwalbe. Der Abgeordnete aus Sachsen- Anhalt hält Finks Wiederaufstieg für symptomatisch: „Das sind die Leute, die sagen, jetzt waren wir lange genug ruhig.“

Was die moralische Einschätzung der Person Finks angeht, dürften van Essen und Schwalbe bei ihren Ausschußkollegen auf Zustimmung stoßen. Wenn trotzdem die politische Beurteilung des Falls bei fast allen Abgeordneten so zurückhaltend ausfällt, so liegt das nicht nur an den ernüchternden Erfahrungen mit dem Verfahren gegen Gysi. Die Untersuchung des Falls Fink findet in einer Republik statt, in der die PDS im Bundestag eine Vizepräsidentin stellt und auf Landesebene an der Regierung beteiligt wird. „Die PDS ist nahezu angekommen in der neuen Bundesrepublik“, meint der SPD-Politiker Wiefelspütz, wobei seine Einschätzung auch für das konservative Lager zutrifft. Nachdem die CDU mit ihrer Warnung vor einer rot-roten Volksfront die Bundestagswahl verloren hat, lädt inzwischen der künftige CDU- Bundesvorsitzende ehemalige SED-Mitglieder ein, seiner Partei beizutreten. Im selben Tempo hat die Stasi-Überprüfung, wie es scheint, als Instrument politischer Diskreditierung an Bedeutung verloren – und wieviel es als Mittel zur historischen Aufklärung taugt, ist mindestens umstritten. „Ich fühle mich nicht als Großvater der Weisheit“, sagt etwa SPD-Innenexperte Willfried Penner, „die Öffentlichkeit kann mit Fug und Recht davon ausgehen, daß Fink ein Stasi-IM war und sich darüber selbst ein Urteil bilden.“

Aber was ist mit Jörg van Essens Vorsatz, an Stasi-Fällen wie dem des früheren Uni-Rektors Fink der Verstrickung von Deutschen in der Diktatur nachzuspüren? Bei Dieter Wiefelspütz stößt van Essens aufklärerischer Impetus auf Skepsis: „Das ist der Anspruch – und wie ist die parlamentarische Wirklichkeit?“ Man stelle sich vor, versucht sich der Gysi-Chefermittler in einem überraschenden Gedankenexperiment, Gysi hätte sich zu seiner IM-Tätigkeit bekannt. „Was wäre wohl passiert?“ Wiefelspütz antwortet sich selbst: „Er hätte sofort einen Mühlstein um den Hals bekommen. Das wäre sein politisches Todesurteil gewesen!“

Die Zweifel der Parlamentarier am Sinn ihres Untersuchungsverfahrens lassen sich nicht zuletzt als Zweifel an der Ausschließlichkeit lesen, mit der DDR-Vergangenheit auf die Tätigkeit einzelner in der Stasi reduziert wird. Die zunehmende Integration der PDS in die Institutionen der Bundesrepublik hat diesen Prozeß sicher befördert: Sie bedeutet den langsamen Abschied von der Trennschärfe, mit der viele Westler die Ostler in gute Dissidenten und schlimme Spitzel trennten. Mit Blick auf den Fall Fink treibt Wiefelspütz eine Frage bis heute um: „Ob das Verfahren dem Gysi mehr genutzt oder geschadet hat?“ Das Faible der Medien für Gysi und die Sympathie der Wähler für die PDS blieben von den Stasi-Vorwürfen unberührt. Wiefelspütz: „Alle Welt war erleichtert, als das Verfahren abgeschlossen war.“ Das Verfahren gegen Heinrich Fink wird wohl Mitte November beginnen.