Der neue deutsche Pragmatismus erwischt die russische Seite kalt

■ Das Versprechen der Bundesregierung, Rußland künftig mit Rat und Tat statt Geld beiseitezustehen, kommt nicht gut an

Rußlands politische Elite sah der Begegnung mit dem neuen Bundeskanzler mit gemischten Gefühlen entgegen. Die Signale aus Bonn im Vorfeld der Visite ließen zwar keine stürmischen Zeiten erwarten, einen Wetterumschlag indes allemal. Nach der intimen Kungelei zwischen Helmut Kohl und Boris Jelzin, die die Planungsstäbe fast überflüssig machte, soll nun eine pragmatische Herangehensweise das Verhältnis zwischen beiden Ländern bestimmen.

Aufmerksam verfolgte Moskau Schröders Haltung zur Osterweiterung der EU, der der Kanzler bei seinem Besuch in Polen zunächst eine geringere Priorität einräumte als noch sein Vorgänger. Der zur Schau gestellte, an ökonomischen Interessen ausgerichtete Pragmatismus ließ selbst die abgehärteten Russen frösteln. Ein bißchen Seele und Gefühlsduselei gehört seit einem Jahrzehnt in Moskau als fester Bestandteil der deutsch-russischen Beziehungen einfach dazu.

Die Henry Kissinger entliehene Devise Schröders, Menschen könnten Freunde sein, Völker hätten indes Interessen, versteht man zwar in Moskau. Traditionsgemäß hält sich Rußland jedoch an eine andere Weisheit: „Sind die Imperatoren Freunde, so sind es auch ihre Völker.“ Dem einfachen Russen gefiel daher die Männerfreundschaft zwischen Helmut und Boris, sie garantierte Ruhe und ein beträchtliches Maß an Unterstützung, ja sogar Geborgenheit.

Statt dessen fordert Schröder nun den östlichen Nachbarn auf, das Haus selbst in Ordnung zu bringen und auf die Selbstheilungskräfte zu setzen. Für die Mannschaft um Premier Jewgeni Primakow, deren Denken noch Kategorien der Sowjetzeit verpflichtet ist, war das ziemlich starker Tobak. Bis zum letzten Moment hatte man gehofft, die Deutschen doch noch zu finanzieller Hilfe bewegen zu können. Das Versprechen, mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, statt Gelder zur Verfügung zu stellen, kommt in dieser Politikergeneration, die den Verlust der Supermachtrolle nur schwer verarbeitet, nicht sonderlich gut an. Das Angebot Bonns, auf EU-Ebene, in der G-7 und G-8 verstärkt die Aufgabe eines Anwalts russischer Interessen wahrzunehmen, wird Moskau sicherlich nicht ablehnen. Es formuliert nur aus, was ohnehin schon jahrelange Praxis war.

Bonn wurde von seinen westlichen Partnern als Transmissionsriemen gen Osten gesehen, während Moskau auf die Fürsprache Deutschlands auf der internationalen Ebene baute. Die Regierung Schröder steht indes vor einem ähnlichen Problem wie ihr Vorgänger, womöglich vor einem noch größeren: Bisher hat Rußland seine Interessen nicht klar ausgelotet. Im Gegenteil, die jüngste Krise und innenpolitische Unruhe lassen eine deutliche Definition der eigenen Perspektive gar nicht zu.

War die Vollmitgliedschaft in der EU, die Jelzin mehrfach aufs Tableau gehoben hatte, auch vor der Krise auf Jahre hinaus illusorisch, ist sie nun in noch weitere Ferne gerückt. Die deutsche EU- Präsidentschaft ab Januar 1999 muß Moskau das Gefühl vermitteln, auch ohne Beitrittsoption ein besonders geartetes Verhältnis zur EU zu unterhalten, das mehr ist als eine bloße Assoziation. Es gilt, trotz aller Schwierigkeiten, die in Europa üblichen ordnungspolitischen Vorgaben Schritt für Schritt zu akzeptieren. Rückschläge müssen miteinkalkuliert werden.

„Ohne Deutschland ist die Integration Rußlands in Europa ausgeschlossen“, meint Wiktor Rykin vom Europainstitut in Moskau. Da die internationale Politik des 21. Jahrhunderts nicht mehr bipolar sein wird, so der Deutschlandexperte, sei es geboten, ein europäisches Modell der Multipolarität zu entwickeln. Darin muß Moskau einen festen Platz haben. Rykin unterstützt auch die harte finanzpolitische Position von Bundeskanzler Schröders. „Es entspricht einer objektiven Einschätzung. Nur wir können uns selbst helfen.“ Gouverneure der wirtschaftlich prosperierenden Regionen würden dem übrigens auch vorbehaltlos zustimmen. Das Vorhaben der neuen Regierung, die direkten Kontakte mit den Provinzen zu vertiefen, wird daher bald auf seine Ernsthaftigkeit geprüft werden. Ob es dem Zentrum gefällt, steht auf einem anderen Blatt.

Wiktor Rykin begreift die Akzentverschiebung als eine Herausforderung, von der beide Seiten nur profitieren können. Zudem sei Rußland schon zweimal in diesem Jahrhundert mit einem sozialdemokratischen Deutschland gut zurechtgekommen – unter Friedrich Ebert und Willy Brandt. Keine geringen Erwartungen, die da in den Neuen gesetzt werden... Klaus-Helge Donath, Moskau