Medienkritik made in Neu-Guinea

Kaum Qualitätsanspruch, keine Zwischentöne, aber manchmal merkwürdig moralisch: Kannibalen-Filme im 3001  ■ Von Oliver Rohlf

m Anfang ist der Off-Sprecher. Eindringlich klärt er das Publikum auf, daß die nun folgenden „Zeremonien und Liebesbräuche, mögen sie uns mitunter erschreckend und grausam erscheinen, wirklichkeitsgetreu wiedergegeben“ werden. Die Stimme als Vermittlungsinstanz für ein ganzes Genre – dem des Kannibalen-Films. Denn jetzt geht das Gefetze los: Frauen, Männer, Tiere – alles, was einmal Leben innehatte, wird zerstückelt, gefressen, vernichtet.

Das Kannibalen-Kino kennt keine Zwischentöne, keinen Qualitätsanspruch und Grenzen schon gar nicht. Dieses Genre war in den 70ern durch und durch zerstörerisch und ohne Hoffnung auf eine bessere Welt. Hört man heute Cineasten zu, wie sie von den Filmen von damals schwärmen, könnte man glauben, die Kino-Apokalypse verpaßt zu haben. In einer Mischung aus Abscheu, Belustigung und Ehrfurcht werden da Trash-Bilder heraufbeschworen, als hätten Leinwand-Sadisten die Folterszenarien der heiligen Inquisition direkt in den neu-guineanischen Dschungel des 20. Jahrhunderts verlegt.

Doch das ist natürlich nur die halbe Wahrheit. Als Unter-Genre des Horror-Films waren die Kannibalen-Filme – ähnlich den Zombie- oder Slasher-Streifen jener Tage – stark in eine Kinotradition eingebunden und in ihrer Gewaltdarstellung nur zu einem sehr geringen Anteil selbstreferentiell ausgerichtet. Ende der 60er provozierte das unruhige Klima rund um den Vietnam-Krieg und die Flower-Power-Bewegung ein Bedürfnis nach einer sexualisierten, exaltierten und gewaltsameren Form von Unterhaltung. Filme, die mit der Unterverschlußhaltung des braven Mainstream-Kinos der 50er und 60er brachen, indem sie Explizität, Voyeurismus oder Triebhaftigkeit visuell bedienten. Zur gleichen Zeit etwa formulierten sich der Porno-, der Exploitation- und der Splatter-Film als eigenständige Genres. Der pseudo-dokumentarische Charakter der Mondo-Cane-Filmreihe (deutsch: Hundewelt), in der die Lebensweisen von sogenannten „nicht-zivilisierten“ Völkern exemplarisch für das verlorengegangene „Ur-Vieh“ im modernen Menschen durchleuchtet wurden, werden heute als kinogeschichtliche Vorstufe zum weitaus trivialeren Kannibalen-Kreis der ausschließlich italienischen Macher Umberto Lenzi, Ruggero Deodato, Joe D'Amato, Jess Franco und Anthony Dawson gewertet. Das dramatische Fundament ist bei ihnen stark von Mission erfüllt. Zivilisation trifft auf unberührte Wildnis, dabei verschlägt es Vertreter der forschenden Zunft – Wissenschaftlicher, Journalisten und andere Abenteurer – ins unerforschte Dickicht, um sich vor Ort mit den atavistischen Sexual- und Todesriten der Urbevölkerung vertraut zu machen und entsprechende Bilder in die moderne Welt zu transportieren.

Ein Auftrag mit explosivem Gehalt. Mal drehen die aufgeklärten West-Menschen aufgrund solch ritualisierter Barbarei durch, mal ist es genau anders herum, und die keineswegs edlen Wilden fallen über die Medienvertreter her. In jedem Fall hält die Kamera all das Grauen fest, dessen Zeuge wir dann werden. Im Rahmen von „Gorefest – Die Splatter und Trash Night“ zeigt das 3001-Kino mit Cannibal Holocaust von Deodato und Dawsons Cannibals In The Streets zwei qualitativ sehr unterschiedliche Auswürfe dieses alles verschlingenden Horror-Sub-Genres. Beide Streifen wurden 1979 gedreht, und beide hatten bislang extrem viel Ärger mit Vertretern des Jugendschutzes, die in derartigen Werken einen eindeutigen Verstoß gegen die Verbreitung jugendgefährdender Schriften sahen.

Cannibals In The Streets erzählt die sehr mäßige Geschichte zweier Vietnam-Veteranen, die im Dschungelkrieg von einem geheimnisvollen Virus befallen wurden, das aus braven Bürgern Menschenfresser macht. Zehn Jahre danach bricht das Virus in den USA aus. Cannibal Holocaust dagegen wirkt auf sehr moralische Weise dem steigenden Voyeurismus einer immer mächtigeren TV-Welt entgegen, indem der Forscher-Held im Film versucht, die gedrehten Folter- und Freßszenen entgegen der raffgierigen Haltung von Fernsehproduzenten unter Verschluß zu halten. Merkwürdige Medienkritik made in Neu-Guinea.

„Cannibal Holocaust“ + „Cannibals In The Streets“ zeigt das 3001 am Sonnabend, dem 21. November um 22.30 Uhr in Anwesenheit der beiden Filmbuchautoren Aaron Boone und Andreas Bethmann.