Milosevics Tagebuch

Wenn Kinder zuviel Erwachsene spielen: Die deutschsprachige Erstaufführung von Familiengeschichten. Belgrad im Malersaal  ■ Von Barbora Paluskova

Per Gesetz verboten ist das Denken in Milosevics Belgrad nicht. Aber es scheint in gewissen Kreisen nicht zum guten Ton zu gehören. Die serbische Dramatikerin Biljana Srbljanovic faßt die Regel, nach der sich ein kluger Mann zu benehmen hat, so zusammen: „Kopf in den Sand, Arsch an die Wand“ – und wer so blöd war und zufällig doch gedacht hat, sollte das möglichst für sich be-halten.

Das Zitat stammt aus Srlbjanovics Stück Familiengeschichten. Belgrad, das Anselm Weber am Schauspielhaus inszeniert. Die Premiere am Freitag ist zugleich die deutschsprachige Erstaufführung. Den Satz für „kluge Männer“ hat die Autorin Vater Vojin in den Mund gelegt, der seine Lebensweisheiten Sohn Andrija mit der Faust beibringen will. Auch Mutter Milena, die als schwaches Weib sowieso nichts zu melden hat, muß einiges einstecken. Die Prügelpädagogik hat unangenehme Folgen: Andrija bringt seine Eltern um, und das gleich mehrfach.

Daß die beiden Verbrannten, Erschossenen und Erdrosselten gleich wieder aufstehen und in ihrem schäbigen Wohnwagen in einer heruntergekommenen Belgrader Vorstadt weiterwursteln können, hat einen einfachen Grund: Alles ist nur ein brutales Kinderspiel. Die vier Figuren sind zwischen zehn und zwölf Jahren alt. Drei der Kinder gehören zur Familie, die vierte, Nadezda, ist fast stumm und benimmt sich wie ein Hund. Die Schauspieler sind also Erwachsene, die Kinder spielen, die Erwachsene spielen – das sollte niemanden wundern, schreibt Srlbjanovic im Vorwort – weil es genügend andere Dinge gibt, über die man sich wundern kann.

Eine realistische Schilderung des Lebens der Belgrader Kinder ist Familiengeschichten nicht, erklärt die 30jährige. Es ist ein Stück über ihre Generation und darüber, wie früh diese genau wie ihre Eltern werden kann. Die Figuren sind so angelegt, daß sie nach Bedarf Alter und Geschlecht wechseln können, und ihre Lust zum Kinderspiel nimmt immer mehr ab – bis sie zu echten Erwachsenen werden. Während dieses Prozesses agiert die Spielplatzfamilie in den verschiedensten Rollen: Tschetnik-Lieder werden gesungen, Emigranten verabschiedet, Demonstranten angeschrien und Kriegsgewinne eingefahren.

In Serbien sei das Theater seit dem Krieg zweierlei, sagt Srlbjanovic: ein Ort der Provokation, vor allem aber eine Oase, in der das Publikum Schutz sucht. Wenn etwa Milena die schwülstigen Tagebücher der Ehefrau von Milosevic vorliest, hat das dort natürlich eine andere Wirkung, als in Hamburg zu erwarten ist.

Aber Dramaturg Tilman Raabke ist zuversichtlich, daß man auch in Deutschland die Geschichten der Belgrader Stehaufmännchen vermitteln kann.

Premiere: Freitag, 20. November, 20 Uhr, Malersaal (Schauspielhaus)