Potsdams wohlgelittener Sündenbock

■ Nach der Flucht des Hintze-Entführers Serow aus der Justizvollzugsanstalt Potsdam bat Brandenburgs Justizminister Bräutigam gestern um seine Entlassung. Kurz danach wurde der Flüchtige gefaßt. Ministerpr

Von Philipp Gessler

Diesen Tag wird Hans Otto Bräutigam, früher Botschafter der Bundesregierung bei der UNO in New York und derzeit Justizminister in Potsdam, nicht vergessen. Da hatte er Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) gestern morgen um Entlassung gebeten, weil der geständige Geiselnehmer Sergej Serow in der Nacht zum Sonntag mit einer spektakulären Flucht aus der Justizvollzugsanstalt Potsdam entkommen war. Wenige Stunden nach dem Rücktrittsgesuch Bräutigams wurde Serow gestern in Berlin gefaßt – Stolpe lehnte die Demission im Verlauf des Nachmittags ab, verlangte jedoch Aufklärung über die Knast-Affäre.

Am Dienstag hatte sich die Situation für Bräutigam zugespitzt. Der Minister bekam die Bedrängnis, in die er geraten war, hautnah zu spüren. Sechs Kamerateams drängten sich zu Beginn der Sitzung des Rechts- und Innenausschusses im Potsdamer Landtag um ihn. Es ging um das politische Überleben des vielleicht renommiertesten Ministers im Kabinett Stolpe.

Vor der Sitzung war Bräutigam kein Sterbenswörtchen zu entlocken. Dabei sollte er vor den brandenburgischen Landespolitikern Rechenschaft darüber ablegen, wie es möglich war, daß der mutmaßliche Schwerverbrecher Serow aus der Justizvollzugsanstalt Potsdam in der Nacht zum Sonntag ausbrechen konnte. Und das mit dem billigen Trick, Laken aneinanderzubinden und sich vom Gefängnisdach abzuseilen.

An diesem Dienstag hatte sich der Minister noch solch einen simplen Fluchtweg gewünscht, aber der korrekte, zuweilen brillante Jurist war nicht der Mann, der sich drückt. Schon in der SPD-Fraktion hatte er betont, daß er die politische Verantwortung für die Flucht des Entführers des in einem Erdloch erstickten Gastwirtssohns Matthias Hintze aus Geltow bei Potsdam übernehmen werde. Doch das Wort „Rücktritt“ kam damals noch niemandem über die Lippen.

Im Rechts- und Innenausschuß aber mußte sich der 67jährige Minister ausquetschen lassen: Wie ist es möglich, daß der Inhaftierte so viele Stunden unbeaufsichtigt blieb, so daß er in Ruhe fliehen konnte? Wie kam er an mehr als ein Dutzend Bettlaken, und wo hat er sie verstaut, ohne daß die Wärter es bemerkten? Wie kann es sein, daß Serow die Aufgabe eines „Hausarbeiters“, der putzt und Essen austeilt, bekam? Und das, obwohl die Gefährlichkeit des Russen bekannt war?

Dann trat Bräutigam, sichtlich erschöpft, vor die Kameras: Es gebe keine wesentlichen neuen Erkenntnisse über die Flucht, viele Einzelheiten seien noch ungeklärt. Darüber hinaus habe seine Staatsanwaltschaft die JVA Potsdam schon früh auf die Gefährlichkeit Serows hingewiesen.

Es sei eine „sehr kritische Entscheidung“ gewesen, Serow trotzdem als Hausarbeiter, der mehr Bewegungsfreiheit im Gefängnis hat, einzusetzen. Diesen Beschluß, so stellte sich bei der Befragung im Ausschuß heraus, hatte der Stellvertreter des Stellvertreters des Gefängnisleiters getroffen. Die Gefängnisleitung habe ihn auch nicht seines Postens enthoben, als Serow erwischt wurde, wie er sich an einer Dachluke zu schaffen machte. Bloße Blauäugigkeit auch, daß er den Wärtern weismachen konnte, ein in seiner Zelle gefundenes Stück Draht habe sein Vorgänger dort liegen lassen?

Der parlamentarische Geschäftsführer der CDU-Fraktion, Dierk Homeyer, kritisierte härter: Je tiefer man sich in die Einzelheiten der Flucht vertiefe, desto verwirrender und skandalöser werde die Geschichte. Und Bräutigam blieb dabei – er trage die politische Verantwortung und „prüfe fortlaufend“, wie er ihr „gerecht werden“ könne. Da war sicher, daß Bräutigam nicht auf seinem Stuhl kleben würde.

Bis heute wollten die Oppositionsparteien CDU und PDS dem Minister Schonfrist geben. Wenn er bis dahin, bis zur regulären Sitzung des Rechtsausschusses, nicht die offenen Fragen zur Flucht und die Verantwortung seines Hauses geklärt habe, würden sie seinen Rücktritt fordern.

Dem wollte Bräutigam gestern zuvorkommen. Er bat Stolpe, ihn aus dem Amt des Ministers für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten zu entlassen, um damit die „volle Verantwortung“ für die Fehler und Versäumnisse in der JVA Potsdam zu übernehmen: lieber selber seinen Rücktritt einreichen, als von der Opposition gezwungen werden.

Doch Stolpe stellt sich vor seinen Minister und lehnt dessen Rücktritt ab. „Ich habe Bräutigam gebeten, die Aufklärung der Vorgänge voranzutreiben“, sagte Stolpe gestern. Er habe sein volles Vertrauen. Stolpe: „Ich werde jedoch seiner Bitte um Entlassung aus dem Amt nicht nachkommen.“ Bis Redaktionsschluß war unklar, ob Bräutigam bei seinem Rücktrittsentschluß bleiben würde.