■ Auch die Grünen haben sich dem Wachstumsfetischismus verschrieben. Daß damit genug Arbeitsplätze entstehen, ist ein Irrglaube
: Das Andere der Arbeit

Wachsen, wachsen, immer nur wachsen. Wenn ich Wirtschaftsmagazine und Finanzzeitungen lese, beschleicht mich oft ein Gefühl großer Oberflächlichkeit und Leere. Sie wollen mehr, viel mehr, und zwar möglichst schnell. Wer sich in der Familie oder unter FreundInnen so aufführt wie diese Geldmoguln und Firmenmagnaten mit ihren harten Mundwinkeln und rotgelben Schlipsen, wird bestenfalls als Egomane betrachtet. Mehr, größer, alles, jetzt – es ist eine kindliche Haltung, mit der die Erfolgreichen eine ganze Weltordnung errichtet haben.

Unter den Eliten in Politik und Wirtschaft, die auch dieses Land regieren, herrscht eine extreme Phantasielosigkeit. Das Wachstum der Unternehmen, Straßen, Handelsströme und Statistiken heilt alle Wunden, wird suggeriert. Mittlerweile sind auch die Grünen diesem Wunderglauben erlegen – in seiner umwelttechnisch verbrämten Variante. Viel ist im Koalitionsvertrag mit der SPD von Innovation, Arbeitsplätzen, Aufschwung und ökologischer Modernisierung die Rede. Ein Blick nach Holland, Dänemark und in andere Länder, die derartige Rezepte praktizieren, zeigt, daß sich damit die Erwerbslosigkeit verringern, jedoch nicht beseitigen läßt. Der Mangel an ausreichend bezahlten Lohnarbeitsplätzen hat sich zu einem strukturellen Problem ausgewachsen, das die Marktwirtschaft bis zum Ende ihrer Tage begleitet.

Wie Trotzköpfe benehmen sich die MinisterInnen und ManagerInnen angesichts der Tatsache, daß systematische Alternativen seit 20 Jahren diskutiert werden. Sie ranken sich um Namen wie André Gorz, den französischen Soziologen, Ulrich Beck, den Münchener Sozialwissenschaftler, Jeremy Rifkin und Frithjof Bergmann, die beiden US-Arbeitstheoretiker. Wie, so fragen sich die Vordenker, können Millionen BürgerInnen der entwickelten Industriestaaten ein menschenwürdiges Einkommen erhalten, wenn die Lohnarbeitsplätze nicht mehr ausreichen?

Bislang lohnlose, selbstorganisierte, für die Allgemeinheit nützliche Tätigkeiten, so lautet die Antwort, müssen Quelle einer neuen Art von Einkommen werden. Zum Beispiel soll die Ehrenamtliche, die überzählige Hotelessen an Obdachlose verteilt, damit Geld verdienen können – falls sie es braucht und will.

Diese Gedanken gewinnen Einfluß, weil die Bindungswirkung der kapitalistischen Ordnung aufgrund ihrer offenkundigen Funktionsfehler nachläßt. Inzwischen ist die Idee der selbstorganisierten Bürgerarbeit aus dem Olymp in die Alltagswelt herabgestiegen, und Dutzende Initiativen zwischen München und Magdeburg, Köln und Cottbus probieren sie aus. Die herrschende Wirtschaftsform selbst nimmt nur noch die Rolle einer Mehrheitsökonomie ein, deren Hegemonialanspruch von diversen Minderheitsökonomien materiell und ideell in Frage gestellt wird.

Mit Hochtechnologie, Bruttosozialprodukt-Fetischismus, Jugend forscht und nationalem Vorsprung im Rennen um internationale Märkte haben diese neuen Arbeitsformen nicht viel gemein. Das dürfte einer der Gründe sein, warum die meisten Politiker sie verdammen oder schlicht ignorieren. Dieser Abwehrreflex ist bei der Sozialdemokratie noch stärker ausgeprägt als im konservativen Lager. Christine Bergmann, Bundesfamilienministerin im SPD-Kabinett Schröder, legte davon im Spiegel-Streitgespräch mit Ulrich Beck unlängst beredtes Zeugnis ab. Kein Wunder, wirkt Bürgerarbeit doch wie Strengstoff gerade für das sozialdemokratische Weltbild. Selbstorganisierte Nachbarschaftshilfe oder Flüchtlingsbetreuung widersprechen den etatistischen Idealen der Arbeiterbewegung, die sich mit den Unternehmen des „ersten“ Arbeitsmarktes arrangierte und ihnen staatliche Großorganisationen oder Regulationsmechanismen – in neuerer Zeit etwa die ABM- Stellen des „zweiten“ Arbeitsmarktes – als Korrektiv gegenüberstellte.

Und unter allen Umständen wollen viele SozialdemokratInnen das Entstehen eines Niedriglohnsektors verhindern. Als Beißreflex gegen Beck ist das nur allzu verständlich. Schlägt der doch vor, daß Bürgerarbeit ohne regulären Lohn auskommt und sich die Arbeitenden mit Belohnungen zufriedengeben. So geht es natürlich nicht. Andererseits aber wären kleinere Einkommen, die häufig unter den heute tariflich vereinbarten Tarifstandards liegen, im Zuge der Bürgerarbeit kaum zu verhindern. Denn diese zeichnet sich dadurch aus, daß sie eben nicht rationalisiert ist und eben nicht möglichst hohen Profit abwerfen soll. Wer seine ergraute Nachbarin umsorgt, tut das im ökonomischen Sinne weniger effizient als der Pflegedienst, der ohne viel Gequatsche 20 Minuten durch die Wohnung wischt und schnell zum nächsten Kunden verschwindet. Deshalb kann man für selbstorganisierte, gemeinnützige Tätigkeit keinen Facharbeiterlohn zahlen.

Muß man auch nicht. Denn der Charme der Bürgerarbeit besteht in ihrer Zusätzlichkeit. Die kleinen privaten Dienstleistungen im Kiez können Vollzeitarbeitsverhältnisse kaum ersetzen, wohl aber ein ergänzendes Einkommen neben Arbeiten auf dem ersten oder zweiten Arbeitsmarkt liefern. Das ist eine Chance – und eine Gefahr zugleich. PolitikerInnen wie Christine Bergmann haben sich für letztere Betrachtung entschieden, denn sie halten die Parzellierung der Arbeit und des Einkommens für ein Übel, das der Deregulierung vorausgeht und die materielle Unsicherheit nach sich zieht.

Auch die ChristdemokratInnen sind noch nicht sehr weit in die Welt der neuen Arbeit vorgestoßen – vor dem Hintergrund ihrer Subsidiaritätslehre aber schon weiter als die GenossInnen. Immerhin findet der erste Versuch zur Bürgerarbeit mit Ulrich Beck an der Spitze im katholischen Bayern und nicht im protestantischen Norden statt. Und im Rahmen der Pflegeversicherung hat der frühere CDU-Sozialminister Norbert Blüm Bürgerarbeit fest eingeplant: Angehörige, die Pflegebedürftige zu Hause versorgen, bekommen diese Tätigkeit entlohnt – zugegebenermaßen auf einem niedrigen Niveau.

Doch ein geringer Lohn ist auch ein Lohn. Und er wurde selbst erarbeitet – selbstorganisiert. Das ist ein menschenwürdigeres Modell, als Millionen überflüssige Beschäftigte in den ersten Arbeitsmarkt hineinpressen zu wollen, der sie nicht mehr braucht. Hannes Koch

Wer mehr wissen will: Zum Thema Non-Profit-Sektor und bürgerschaftliches Engagement veranstaltet die Heinrich-Böll-Stiftung am 20. und 21.November einen Kongreß in Leipzig.