Gegner geben Netanjahu die Mehrheit

■ Israels Parlament segnet die Umsetzung des Abkommens von Wye ab. Doch die Regierung steht schon vor der nächsten Zerreißprobe

Jerusalem (taz) – An der komfortablen Mehrheit für das Wye- Abkommen gab es nie einen Zweifel. Von den 120 Mitgliedern der Knesset, des israelischen Parlaments, stimmten am späten Dienstagabend 75 für die Ratifizierung des Abkommens, nur 19 dagegen. 9 Abgeordnete enthielten sich, 17 blieben der Abstimmung fern. Die zwei Minister der National-Religiösen Partei stimmten dagegen. Außenminister Ariel Scharon enthielt sich, obwohl er zuvor im Kabinett noch für das von ihm mit ausgehandelte Abkommen gestimmt hatte.

Ohne die Zustimmung der Opposition wäre die Regierung um Ministerpräsident Benjamin Netanjahu gestürzt, denn auf Antrag der rechtsextremen Moledet-Partei wurde die Abstimmung mit einem Mißtrauensvotum verbunden. Bis zuletzt hatten die Abgeordneten verlangt, daß ihnen die Landkarten für den Teilrückzug gezeigt werden. Die Siedlerorganisationen, denen diese Karten zuerst vorgelegt worden waren, hatten 117 Änderungsanträge gestellt, von denen nach Militärangaben 61 berücksichtigt wurden. Und das betraf nur die ersten zwei Prozent des israelischen Teilrückzugs aus dem Westjordanland, die spätestens Anfang kommender Woche umgesetzt werden sollen. Die Entscheidung darüber trifft ein Ausschuß des Kabinetts, dessen Sitzung gestern von Netanjahu um einen Tag verschoben wurde.

Dies Abstimmung ist dramatischer, als es die breite Mehrheit im Parlament erahnen läßt. Netanjahus Regierung steht vor einer Zerreißprobe. 7 der insgesamt 17 Minister blieben der Abstimmung am Dienstag fern. Nur 7 votierten für das Abkommen. Und bei den Abgeordneten der Regierungsparteien sah das Abstimmungsverhalten nicht viel anders aus. Mehr als ein Drittel hat nicht für die Ratifizierung des Abkommens gestimmt.

Kein Wunder, daß die Diskussion um Neuwahlen oder die Bildung einer großen Koalition erneut aufgeflammt ist. Selbst der Aufruf Scharons an die Siedler, jeden nahegelegenen Hügel im Westjordanland zu besetzen und die Siedlungen auszudehnen, hat die Opposition gegen Wye nicht verringern können.

Wenn die Regierungsparteien nicht in letzter Minute kalte Füße kriegen und um ihrer Pfründe willen einknicken, heißen die Alternativen: Neuwahlen oder große Koalition. Netanjahu nannte Neuwahlen „ein gefährliches Spiel“. Selbst die Nationalreligiösen beschlossen am Sonntag, die Regierung Netanjahu als das „kleinere Übel“ zu betrachten und der angestrebten Selbstauflösung der Knesset ihre Zustimmung zu verweigern. Eine Entscheidung über die Einladung zur Diskussion über eine große Koalition will Netanjahu in den kommenden Tagen treffen.

Der Chef der oppositionellen Arbeitspartei, Ehud Barak, fordert Neuwahlen. Und auch Friedensarchitekt Jossi Beilin ist gegen eine große Koalition. Altpräsident Schimon Peres befürwortet indes den Eintritt der Arbeitspartei in die Regierung. Barak wird nachgesagt, falls man ihm umstimmen könne, werde er sich nicht mit weniger als dem Verteidigungsministerium zufrieden geben. Doch wie soll Netanjahu den derzeitigen, populären Verteidigungsminister Mordechai loswerden?

Befürworter einer großen Koalition gibt es auch bei den kleineren Parteien. Nathan Scharansky, Chef der russischen Einwanderer-Partei Jisrael Baalija, Sicherheitsminister Avigdor Kahalani vom Dritten Weg und Arie Deri, einflußreicher Vorsitzender der Schas-Partei, haben sich öffentlich für eine große Koalition eingesetzt. Vorsicht ist jedoch geboten. Schon so manche Prognose über den Fall der Regierung Netanjahu hat sich als voreilig herausgestellt. Georg Baltissen