Hilfsgüter verschärfen die Krise

Lebensmittellieferungen aus den USA und der EU gelten in Rußland als Skandal: Sie bringen die gerade erholte heimische Agrarindustrie in Schwierigkeiten  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Bei seinem Moskaubesuch versprach Bundeskanzler Schröder, Deutschland werde als „Anwalt“ der russischen Interessen in der EU wirken. Staatsminister Verheugen fügte hinzu: „Wir gehen davon aus, daß bei den humanitären Hilfsmaßnahmen vorhandene und funktionsfähige Strukturen nicht zerstört werden.“

Genau das aber befürchten viele Menschen in Rußland. In den Massenmedien herrscht Empörung über die geplante US- und EU-Lebensmittelhilfe an ihr Land. Als „unnötig“, als „aufgezwungen“ und als „absurdes Theater“ beklagen sie die Hilfsprogramme. Mit ihnen stößt die Regierung Primakow erstmals auf Opposition im gesamten politischen Spektrum. Vor allem die geplanten Weizen- Lieferungen empfindet die russische Öffentlichkeit als skandalös.

Diese Lebensmittelhilfe verschafft nach Meinung der Gegner zwar dem Westen ein Ventil für seine landwirtschaftliche Überproduktion, sei aber gleichzeitig ein schwerer Schlag für die russische Landwirtschaft. Deren Effektivität war nämlich in den letzten Jahren gewachsen. Russische Investoren konzentrierten sich nach der August-Krise aufs Inland. Die russischen Hühnerfarmen erleben breits ein kleines Wirtschaftswunder – dank des Ausbleibens der amerikanischen Hühnerteile, der sogenannten Bush-Beinchen. Die Tageszeitung Komsomolskaja Prawda hoffte: „Der Fall des Rubel könnte den Aufstieg unserer Agrarier bedeuten.“

Außer einem gravierendem Mangel an Schlachtvieh gibt es in Rußland offiziell ausreichend Nahrung für alle. In Wahrheit muß gar ein gewisser Überfluß vorhanden sein. Denn die Bauern verstecken schätzungsweise 20 bis 25 Prozent ihrer Erträge vor den Rechnungshöfen.

Nicht wegen mangelnder Lebensmittel droht Teilen des Landes eine Hungersnot, sondern dank Teuerung, leerer Staatskasse und schlechter Organisation. Nach der Rubelentwertung und dem Ausbleiben von Importen schossen die Preise in die Höhe. Die ärmeren Bevölkerungsschichten können sich deshalb nur noch die elementarsten Lebensmittel leisten, vor allem Kartoffeln und Brot. Die Regierung konnte die nördlichen Dauerfrostgebiete nicht rechtzeitig versorgen. Auch kann der Staat seine Armee, seine Waisenhäuser und seine Altersheime nicht mehr ernähren.

Wieviel von den Hilfsgütern verteilt und wieviel verkauft werden soll, bleibt vorerst im dunkeln. Als „fruchtbaren Boden für Korruption“ bezeichne die Tageszeitung Kommersant die Realisierung der Hilfe. Die Regierung will etwa die mit den Verkäufen beauftragten Holdings ohne Ausschreibung auswählen.

Daß die Versorgung der russischen Verbraucher ein Problem der Finanzen ist und nicht der Vorräte, gilt vornehmlich für den Getreide-Sektor. Trotzdem wollen die USA 1,5 Millionen Tonnen Weizen und 100.000 Tonnen anderer Lebensmittel als Geschenk liefern. Außerdem erhält Rußland einen langfristigen zweckgebundenen Kredit von 600 Millionen Dollar zum Ankauf weiterer Lebensmittel in den USA. Auch die vorgesehenen europäischen Lebensmittellieferungen im Wert von 500 Millionen Dollar enthalten eine Million Tonnen Weizen.

Dabei ist trotz diesjähriger Mißernte das Angebot an Getreide heute besser denn je. Erstens liegen noch Vorräte vom letzten Jahr in den Silos, zweitens betrifft der aktuelle Ausfall vor allem die Futtersorten. Die Produktion von Nahrungsmittelweizen wuchs sogar von 17 auf 21 Millionen Tonnen. Die Lebensmittel-Holding „Russki Produkt“ konnte ihren Ausstoß an Pasta und Frühstücksflocken in der Krise verdoppeln.

Wegen der geringen Kaufkraft der Bevölkerung bleiben die landwirtschaftlichen Unternehmen unterdessen auf ihrem Weizen und Roggen sitzen. In der fruchtbaren südlichen Region um Krasnodar findet das Getreide trotz eines Niedrigstpreises von 30 Dollar pro Tonne keine Abnehmer. Zum Vergleich: amerikanisches und europäisches Getreide kostet heute rund 100 Dollar pro Tonne.

Um den ausländischen Hilfs- Weizen überhaupt loszuwerden, wird die russische Regierung nun ein Preis-Dumping gegen ihre eigenen Bauern betreiben müssen. Indessen hätte sie für die gleiche Summe Geldes, die sie gegen Zinsen in den USA zwecks Erwerbs amerikanischen Weizens borgt, dreimal soviel davon zu Hause kaufen können. Kein Wunder, daß auch die russischen Produzenten nach dem Weltmarkt schielen. Im diesem Jahr konnten sie immerhin schon 1,2 Millionen Tonnen Weizen exportieren.

Auf die Frage: Wem nützt das alles?, gibt in der Tageszeitung Nowye Iswestija die Agrarexpertin Jewgenia Serowa eine schlüssige Antwort: „Den staatlichen Organen, den mit der Verteilung der Aufträge beauftragten Beamten, egal ob Russen oder Amerikaner.“ Bürokraten strebten immer nach Macht und hätten nur Macht, wenn es etwas zu verteilen gebe. „Hätte nicht die Regierung lieber in Europa um einen Kredit bitten sollen, um das Krasnodarer Getreide für 30 Dollar pro Tonne zu kaufen?“ fragt Serowa.