Das Mädchen und der reine Tor

■ Neu im Kino: An „Träume bis ans Ende der Welt“ von Timothy Hutton ist nur der Titel total beknackt

Einige Filme muß man gegen ihre kreuzdummen deutschen Verleihtitel verteidigen. Welcher auch nur halbwegs geschmackssichere Mensch würde sich schon freiwillig ein Werk mit dem Titel „Träume bis ans Ende der Welt“ zumuten wollen? Auch dagegen müßten Filmemacher eigentlich klagen können! Dabei hat der Film mit „Digging to China“ solch einen poetisch, schönen Originaltitel, der gleich auf den Kern kommt. Denn die Protagonistin des Films, die zehnjährige Harriet Frankovitz, versucht tatsächlich in der Anfangsequenz des Films ein Loch bis hinunter nach China zu graben, stößt aber nur auf die elektrischen Leitungen und verursacht einen Kurzschluß, der alle Lichter im Motel ihrer Mutter ausgehen läßt.

Auch sonst ist sie ein Kind mit einer sehr regen Fantasie, die sie zur Stammkundin der örtlichen Feuerwehr werden läßt: Mal schlüpft sie in einen Hasenbau und bleibt darin stecken, mal schwebt sie in einem selbstkonstruierten Luftschiff ein paar Meter durch die Lüfte und landet in einer Baumkrone. Hier wird das bekannte Drama des begabten Kindes noch einmal aufgeführt, und immerhin gelingt es der jungen Schauspielerin Evan Rachel Wood, das altkluge Mädchen so sympathisch, natürlich und verletzlich zu verkörpern, daß sie uns nicht, wie viele andere penetrant „nette“ Kinder im Kino, auf die Nerven geht.

In der Schule langweilt Harriet sich nur, ihre Mutter ist eine Alkoholikerin, die von dem Kind eher selbst bemuttert werden muß, und ihre ältere Schwester interssiert sich nur für ihre ständig wechselnden Freunde. Statt der von Harriet ersehnten UFOs landet in ihrem Motel ein Besucher, der auch von einer ganz anderen Welt zu kommen scheint. Ricky ist 30 Jahre alt und geistig behindert. Die beiden erkennen schnell im anderen den Wahlverwandten, der auch in die Außenseiterrolle gedrängt wurde und sich seine Welt ganz allein zurechtdenken muß. Von ihrer Freundschaft, deren schweren Prüfungen und der Art, wie die erzkonservative Umwelt auf dieses Phänomen reagiert, erzählt dieser kleine, fast kammerspielartige Indepentent-Film, und zum Glück vermeidet er dabei die großen dramaturgischen Hämmer – er kommt fast ganz ohne die gängigen Plotstränge der falschen Verdächtigungen, leidenden Unschuldigen und sexuellen Zwischentöne aus.

Ricky ist einer von den reinen Toren, die die Schauspieler in Hollywood offensichtlich so gern spielen. Dustin Hofmann in „Rainman“ und sogar Leonardo DiCaprio in „Whats Eating Gilbert Grape“ gaben oscarverdächtige Leistungen als geistig Zurückgebliebene, und auch in ihrer Literatur lieben die Amerikaner seit Steinbecks „Von Mäusen und Menschen“ ihre tumben Heiligen. In diese Tradition reiht sich Kevin Bacon mit der Rolle des Ricky nahtlos ein, und er braucht mit seinen hilflos zappelnden Bewegungen und den berührend unbeholfen gestammelten Satzfetzen den Vergleich mit seinen Vorgängern nicht zu scheuen.

Und noch eine Entwicklung des Hollywood der letzten Jahre kann man an diesem Film erkennen: Immer mehr Schauspieler arbeiten auch hinter der Kamera. Oft wohl in erster Linie, um sie bei Laune zu halten, durften Tom Hanks, Diane Keaton und andere ihre Regiedebüts geben, und hiermit wird auch Timothy Hutton Mitglied in diesem exklusiven Club.

Hutton entpuppt sich als behutsamer Regisseur, dem es gelingt, dem Film eine märchenhaft poetische Grundstimmung zu geben, und die humanistische Botschaft wird den ZuschauerInnen nie zu deutlich aufs Auge gedrückt. Von kleinen Schwächen abgesehen ist „Träume bis ans Ende der Welt“ viel besser als es der Titel ahnen läßt. Wilfried Hippen

Cinema, tägl. 17 Uhr