Die fünffache Mamuschka

■ Die Shakespeare Company ist fremdgegangen und hat mit „Onkel Wanja“ erstmals Tschechow inszeniert – mit Erfolg

Manchen Leuten läuft schon ein Schauer über den Rücken, wenn sie das Wort „Werst“ hören. Und wenn dann noch jemand – auf einer Bühne zum Beispiel – das Wort „Smolensk“ hinterschickt oder gar den Namen „Michael Ljwowitsch“ haucht, haben sie Glanz in den Augen. Jetzt kommen diese russophilen ZeitgenossInnen an einem Ort auf ihre Kosten, an dem sonst von „Illyrien“ die Rede ist und von Faulheiten im Staate Dänemark gesprochen wird. Denn die Shakespeare Company spielt mit den „Szenen aus dem Landleben in vier Akten“ alias „Onkel Wanja“ jetzt erstmals ein Stück von Anton Tschechow (1860-1904). Das heißt: Sie spielt, daß sie Tschechow spielt. Doch sie vergißt vor lauter Tschechow spielen meistens, daß sie Tschechow nur spielen sollte, weil es der Regisseur so wollte. Aber das hört sich komplizierter an als es ist.

Nahezu jeder Theatermensch schwärmt für Tschechow. Fragt man eine RegisseurIn nach den Vorlieben, fällt mit Sicherheit der Name des russischen Autors. Mit „Der Kirschgarten“, „Die drei Schwestern“ oder auch „Onkel Wanja“ hat er die Stimmungen des russischen Bürgertums und des Landadels im Fin de Siècle verewigt und zeitlose Sehnsuchts-Charaktere entworfen, die nie da ankommen, wo sie hinwollen, und dabei spüren, wie nutzlos sie ihr Leben verleben. Die verhaltene Tragik und subtile Komik der Figuren und Szenerien macht Tschechows Stücke so reizvoll wie unverwüstlich. Und deshalb ist es kaum ein Wunder, daß sich die Shakespeare Company für die erste größere Inszenierung eines anderen Klassikers eben Tschechow ausgesucht hat. Allerdings machen Regisseur Rainer Iwersen und das fünfköpfige Ensemble gleich in der ersten Szene klar, daß es sich hier um kein gewöhnliches Stadttheater, sondern um ein Schauspielhaus handelt, das weiterhin seine Vorsätze pflegt.

Rechtwinklig krumm gebeugt und tattrig schlurft Martin Schwanda als alte Kinderfrau Njanja über die Bühne und verzittert klappernd eine Tasse Tee, die er/sie dem Arzt Astrow servieren will. Das ist witzig und ganz und gar nicht die einzige Stelle, an der dieser „Onkel Wanja“ halb zum Schmunzeln und halb zum Gackern komisch ist. So kommt diese Mamuschka viel später sogar in fünffacher Ausführung auf die durch Wegräumen der ersten Reihen vergrößerte Bühne und zeigt, daß die Karikatur in der Company weiterhin die Lizenz zum Auftreten hat. Rainer Iwersen versteht Tschechows Satz „Ich habe immer nur Komödien geschrieben“ ganz genau, doch auf seine Weise – nämlich mitunter gar nicht – versteht ihn das am Ende begeisterte Premierenpublikum, aus dem Einzelne selbst an Stellen laut prustend auflachen, an denen es eigentlich nichts zu lachen gibt. Denn dieser „Onkel Wanja“ ist für Company-Verhältnisse im Ganzen überraschend unkomisch.

Während am anderen Bremer Schauspielhaus die „Drei Schwestern“ gerade wie Thirtysomethings von heute aussehen und daherreden, tritt das Quintett hier im Fin-de-Siècle-Outfit auf (Bühne und Kostüme Gabriele Keunecke und Isolde Stark). Eine Afrikakarte, das Bild einer einsamen Birke und vor allem die Möblierung der ansonsten leeren Bühne mit alten Kino- oder Theaterstühlen konterkarieren aber die Szeneriebeschreibung „Salon in einem Landgut“ und rücken sie ins zeitliche Nirgendwo. Ach ja, Theaterstühle: Sie spielen ja, daß sie spielen.

Sie stellen dar, daß die (nur bei Tschechow) häßliche Sofja (Annette Ziellenbach) den Arzt Astrow (Sebastian Kautz) liebt und diese Liebe unerwidert bleibt, weil der nur ein Auge für Sofjas (nicht nur bei Tschechow) bildhübsche Stiefmutter Elena (Uta Krause) hat, was wiederum beinahe unerwidert bleibt, weil sie ihrem Mann Serebrjakow (Martin Schwanda) die Treue hält. Sie spiel-spielen auch, daß Sofja, Elena und Wanja (Peter Lüchinger) erfahren müssen, was für ein despotischer alter Geck der Professor Serebrjakow ist. Und vor allem spiel-spielen, also karikieren sie das Alter, weil das Ensemble nach wie vor jung ist und ein bißchen Overacting wohl zum „Volkstheater“ gehört. Doch bis auf Lüchinger, der seinen Wanja arg künstelnd und chargenhaft gibt und aus diesem Abziehbild seltsamerweise eine irritierende und wirksame Restglaubwürdigkeit durchschimmern läßt, fallen die anderen nur gelegentlich aus den Rollen. Zwar überzeichnen sie hier ein bißchen und werden da etwas zu laut. Zwar schnäuzen sie ihre Sehnsüchte und Verzweiflungsanfälle unter dem Company-Dauerprojekt namens „Überwindung der vierten Wand“ (zwischen Bühne und Publikum) manchmal arg frontal in den Zuschauerraum. Doch ganz offenbar lieben alle fünf AkteurInnen diese, ihre Tschechow-Figuren, die ihre Chancen haben, aber sie nicht nutzen, und am Ende da landen, wo sie am Anfang hätten ausbrechen können. Es ist vielleicht diese untergründige Botschaft des Carpe diem (Nutze den Tag), mit der Tschechow vor hundert Jahren dem Publikum einen Spiegel vorgehalten hat. Dieser Botschaft und dem guten Ensemble verdankt Rainer Iwersens gut gelungene „Onkel Wanja“-Inszenierung an diesem Fin de Siècle ihr Leben, ihre Glaubwürdigkeit und ihre erst am etwas zu gedehnten Ende abflachende Spannung. Christoph Köster

Aufführungen: 21., 25. und 27. November sowie 5. und 12. Dezember um 19.30 Uhr und 22. November, 18 Uhr, Theater am Leibnizplatz