Knöcherne Hand in der Hose

■ Nigel Charnocks Tanzperformance „Human Being“ im Podewil formuliert die Frage nach dem Sinn des Lebens so: „Warum Sex?“

Mein Gott, dieser Mann redet ununterbrochen. Selbst dann noch, wenn er tanzt, die Beine hochreißt und in den Spagat knallt, daß man bis in die hinterste Reihe die Zerrung fürchtet. Nigel Charnock steht unter Druck und mit mehr atü, als der weihrauchparfümierte Disconebel auf uns losgelassen wird, dampft er Geständnisse und Erinnerungen aus.

Selten drängen sich bei einem Solo die Geister der Beschworenen so dicht auf der Bühne wie in Charnocks Monolog „Humang Being“. Wir lernen den Vater des Engländers kennen, der im Krieg über Polen abgeschossen wurde und der Gaskammer nur durch die Liebe zu einem Nazi-Offizier entkam. Liebhaber überhaupt, das Thema! Den ersten, von dem wir hören, brachte „naughty nigel“ aus Eifersucht um, vom zweiten wurde er schwanger, um seinen Vater zu gebären, der dritte war Jesus Christus.

Das zehrt auf und geht an die Substanz!

Jesus! Wie er dessen Füße mit seinem Haar getrocknet und für die Speisung der fünftausend all die Kocherei machen mußte und wie dessen ständige Liebe zu seinem Nächsten nicht mehr auszuhalten war. Das geht an die Substanz, zehrt dich auf, läßt nichts mehr übrig.

Als „Tanzperformance“ aus London ist Charnocks Solo angekündigt. Doch die Tanzeinlagen und Gesangsnummern, die meist der Sehnsucht nach dem Glamour gelten, verblassen neben den auf uns niederprasselnden Erzählungen.

Um den Körper als nicht zu betrügendes Instrument auf der Suche nach Wahrheit geht es gleich wohl. All die Phantasien von wassermelonenschweren Schwangerschaften, die pornographischen Wortkaskaden und das Ausmalen vom Blutwegputzen nach dem Mord suchen die physische Erschütterung.

Die Frage nach dem Sinn des Lebens heißt bei Charnock: „Sex, why?“ Babypuppen regnen vom Bühnenhimmel, und er scheint mit den Jahren ein ernstes Problem mit den nicht in die Welt gesetzten Kindern zu haben. Sein einziger Tanzpartner ist ein Skelett, das seine knöcherne Hand in seine Hose steckt. Ein traurigeres Bild vom Mangel an Geborgenheit läßt sich kaum denken.

Fehlende Wärme und schmerzhafte Leere

So beschreibt Charnock eine schmerzhafte Leere dort, wo die Konventionen der Familie und der Religion ihre Gültigkeit verloren haben. Je beflissener er seine Sünden aufzählt, je detaillierter er seine Ausrutscher ins sadistische Fach schildert, desto mehr scheinen hinter diesen Projektionen Ängste und Einsamkeit auf.

Mit diesem Festkrallen der Sprache ins Fleisch zeigt er sich der Generation der jungen englischen Dramatiker nahe, die auch die Berliner Theater für sich entdeckt haben.

Katrin Bettina Müller

„Human being“, in englischer Sprache, heute und morgen ab 20.30 im Podewil, Klosterstr. 68–70, Mitte