"Junge Leute fordern Veränderungen"

■ Nina Hauer (31) von der SPD und Christian Simmert (25) von den Grünen sind neu im Bundestag. Die jungen Abgeordneten diskutieren über die rot-grüne Regierungskoalition, die ausbleibende Aufbruchstimmung

Nina Hauer, Lehrerin und ehemalige stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende gewann ihren Wahlkreis Wetterau (Hessen) direkt. Der Werbeassistent Christian Simmert kam über die NRW-Landesliste der Grünen in den Bundestag.

taz: Der Wechsel ist geglückt. Eine rot-grüne Regierung kann dieses Land verändern. Warum ist in Deutschland so gar nichts von Aufbruchstimmung zu spüren?

Hauer: Es gibt doch Aufbruchstimmung. Wir haben jetzt Minister, die für ihr Amt nicht mehr Gottes Hilfe in Anspruch nehmen. Wir haben einen neuen Bundestagspräsidenten, der eine ganz andere Sprache spricht als seine Vorgänger. Man muß aber auch bedenken: Für alles, was man macht, muß man auch gesellschaftliche Mehrheiten schaffen. Ich finde, Rot-Grün ist ganz gut angelaufen.

Simmert: Eine energische Aufbruchstimmung vermisse ich schon. Beim Wechsel zu Willy Brandt sei alles viel lauter gewesen, erzählen die Älteren in unserer Fraktion. Aber heute ist die Situation eine andere als damals.

Hauer: Ja, die junge Generation hat überhaupt keine Erfahrung damit, daß Politik ihr Leben gestaltet. Denen ist in den letzten 16 Jahren nur gesagt worden: Jeder ist für seinen Kram selbst verantwortlich, und wer nicht mitkann, fällt hinten runter. Wir können nicht erwarten, daß die nach fünf Wochen Rot- Grün plötzlich Vertrauen zur Politik entwickeln.

Simmert: Das hat aber auch etwas damit zu tun, wie sich die rot- grüne Koalition in gesellschaftliche Bewegungen einbinden läßt. Viele, die sich im Bereich Asyl oder Anti-AKW engagieren, sind von diesem Koalitionsvertrag überhaupt nicht begeistert. Aufbruch kann es nicht geben ohne Konfliktbereitschaft und Polarisierung. Aufbruchstimmung muß man machen!

Was erwartet die junge Generation von Rot-Grün?

Hauer: Wir müssen ganz schnell zeigen, es gibt eine neue Verantwortlichkeit. Eine wesentliche Erfahrung der Studenten im großen Streik vom letzten Wintersemester war: Niemand ist verantwortlich. Nicht die Hochschulen, nicht die Länder, nicht die Bundesregierung. Das ist für Menschen, die zum ersten Mal in ihrem Leben für etwas auf die Straße gegangen sind, eine ganz bittere Erfahrung. Aber auch die Jugendlichen, die in dieser Gesellschaft weder im Schulsystem noch auf dem Ausbildungsmarkt eine Chance hatten, müssen jetzt spüren: Es gibt doch eine Chance für mich. Deshalb muß es auch ganz schnell ein Bündnis für Ausbildung geben. Simmert: Junge Leute erwarten, daß Politik endlich die gesellschaftlichen Realitäten anerkennt. Die alte Regierung hatte ja ein völlig überholtes Familienbild. Wir müssen auch eigenständige Formen von Familienleben jenseits der Ehe unterstützen. Alleinerziehende Väter und Mütter müssen am Erwerbsleben teilnehmen können.

Hauer: Etwas ist schon passiert seit dem Wechsel: Zum ersten Mal in den 90ern ist es wieder schick, über Politik zu reden.

Die Kinder der Kohl-Ära gelten überwiegend als unpolitisch. Ihr beide habt in eurem Leben hauptsächlich Politik gemacht.

Simmert: Einen Allgemeinvertretungsanspruch für meine Generation habe ich als junger Abgeordneter nicht. Will ich auch gar nicht. Mein Lebensgefühl und meine Einstellungen decken sich sicher nicht mit dem Gros meiner Generation. Ich weiß aber doch ziemlich gut, wie die ticken. Ich bin ja auch erst ein paar Wochen im Raumschiff Bonn.

Hauer: Bevor ich nach hierher nach Bonn kam, war ich Lehrerin. Mit meinen Schülern habe ich die Erfahrung gemacht, daß die oftmals sehr politisch sind. Zwar mißtrauen sie prinzipiell allen Parteien. Aber gerade, wenn die Jugendlichen begründen, warum sie sich nicht für Politik interessieren, ist das teilweise hoch politisch. Simmert: Es kann Rot-Grün gelingen, diese Kohl-Generation zu knacken. Wenn die Jugendlichen merken, daß sich etwas bewegt, wenn sie die Veränderung in ihrem Lebensumfeld merken, dann werden sie sich auch selbst engagieren. Dann hat sich dieses resignative In- sich-Zurückziehen schnell erledigt.

Hat eure Generation weniger Angst vor Veränderungen?

Hauer: Die Bereitschaft, Veränderungen zu erkennen und zu gestalten, ist bei unserer Generation stark. Wir waren gezwungen, diese Bereitschaft zu entwickeln, um überhaupt eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Aber es gibt auch Ängste vor den modernen Schlagworten: lebenslanges Lernen, flexibel sein, Wohnort ständig wechseln. Viele trauen sich gar nicht mehr, ihre Angst vor dieser geforderten Flexibilität überhaupt zu artikulieren.

Simmert: Eine überwältigende Mehrheit junger Menschen fordert Veränderungen, etwa den Ausstieg aus der Sauriertechnologie Kernkraft. Das müssen wir mit deren Initiative verknüpfen. Stellen wir doch Wagniskapital für Unternehmungen im Bereich regenerative Energien zur Verfügung. Wir müssen Angebote machen.

Hauer: Vor allem die jungen Frauen erwarten von dieser Regierung Angebote. Der progressivste Ansatz bisher war, Kinder und Arbeit mit einem Teilzeitjob zu verbinden. Aber mit einem Teilzeitjob macht man in der Wirtschaft keine Karriere. Es muß mehr gesellschaftliche Angebote zur Kinderbetreuung geben.

Die grüne Gründergeneration und die berühmten Enkel Willy Brandts in der SPD sind nach langem Warten endlich an der Macht. Wie erlebt ihr ihren Umgang mit dieser Macht?

Hauer: Die Enkel haben teilweise sehr hohe Preise bezahlt, um diese Macht noch erleben zu können. Das ist eine Politikergeneration, die noch vor ein paar Jahren von der Änderung des Asylrechts bis zur Zustimmung zu Kampfeinsätzen jeden Kompromiß mitgemacht hat. In den letzten drei Jahren haben die Enkel es aber auch geschafft, ein Profil zu entwickeln und einen sozialdemokratischen Auftrag zu formulieren. Dafür sind sie jetzt auch verdient an die Macht gekommen. Und jetzt sind auf einmal viele Ideen wieder da, die in den letzten Jahren in der SPD keine Rolle mehr gespielt haben. Ich finde, die Macht steht den Enkeln erstaunlich gut.

Wie machen sich die alten Grünen an der neuen Macht?

Simmert: Es ist schon seltsam zu sehen, wie selbst Ludger Volmer plötzlich den Schlipszwang für sich entdeckt. Im Ernst: Die Old Stars in unserer Partei haben zuletzt eine grüne Position nach der anderen über Bord geworfen, zum Beispiel die Trennung von Amt und Mandat. Das Wort „Kontinuität“ hat auf einmal bei den Grünen einen hohen Stellenwert. Aber wo bleiben denn unsere eigenen grünen Akzente, etwa in der Außenpolitik? Wir sollten uns nicht um jeden Preis koalitionskonform schleifen. Wir brauchen ein eigenes Profil, das eben nicht rot-grün ist.

Hauer: Bei einigen grünen Positionen ist es vielleicht ganz gut, wenn die Realität die ein bißchen schleift. Die grüne Vorstellung von einer Ökosteuer etwa. Aber es wird für die Grünen sicher verdammt schwer, ihren frischen Wind nicht zu verlieren und einfach in die Rolle der FDP zu schlüpfen.

Ist Rot-Grün für euch ein Reformprojekt?

Hauer: Das ist ein sehr intellektueller Begriff, mit dem kaum jemand in der Bevölkerung etwas anfangen kann. Rot-Grün sind zwei Parteien, die einen Vertrag miteinander geschlossen haben, nicht mehr. Ich stehe für ein sozialdemokratisches Reformprojekt ein, nicht für ein rot-grünes.

Simmert: Bei uns sind viele schon jetzt ernüchtert. Der Ausstieg aus der Atomenergie, eine Änderung des Asylrechts oder auch nur eine Umlagefinanzierung für Ausbildung stehen ja nicht auf der Tagesordnung. Wäre man hier im Koalitionsvertrag konkreter geworden, wäre Rot-Grün ein Reformprojekt. So ist es nur ein nüchternes Koalitionsgeschäft.

Sehen deine älteren Fraktionskollegen das anders?

Simmert: Die Älteren bei uns haben ja jahrelang mit Überzeugung für Rot-Grün gefightet. Letztendlich sind sie aber Profis genug, um die neue Koalition nüchtern zu betrachten.

Als Neulinge im Bundestag hättet ihr euch persönlich eigentlich doch besser in der Opposition profilieren können als im Zwang einer Regierungsfraktion.

Hauer: Würde ich so denken, hätte ich im Bundestag nichts verloren. Es gibt alte SPD-Abgeordnete, die haben in der ersten Abstimmung des neuen Bundestages vor Freude geheult. Sie haben 16 Jahre lang die Hand gehoben und nie eine Mehrheit gehabt. Wir hingegen haben die einmalige Chance, endlich etwas zu gestalten. Eine traumhaftere Einstiegsmöglichkeit kann ich mir gar nicht vorstellen.

Simmert: Ich freue mich darauf, in der grünen Fraktion auch die Grenzen der Koalitionsdisziplin auszutesten. Interview: Robin Alexander