Gutfühlen, trotz Knast und Alterslast

■ James Brown bewies, daß sich echte Vitalität durch fortschreitende Rückgradverkrümmung nicht niederkriegen läßt

Gar einige Zehntausende traten in diesem häßlichen Bremer Sommer die Pilgerschaft an zu den Rolling Stones - für eine Handkesche Stunde der wahren Erinnerung. Doch höchstens ein dreiviertel Stückchen eines solchen Zehntausend-Menschen-Batzens zog es in diesem respekteinflößenden Wintervorspiel zu James Brown in die Stadthalle. Wie ungerecht. Dabei gehen klassische James-Brown-Konzertwidergänger doch schon seit zehn Jahren in das „vermutlich letzte“ Sollte-man-nicht-verpassen-Konzert des mittlerweile 75jährigen. Außerdem gieren die Stones immer noch erfolglos nach „Satisfaction“, wohingegen James Brown nach wie vor von sich höchstüberzeugend behaupten kann: „I feel good“. Dieses tat er in Bremen um viertel vor zwölf. Denn die darauf folgende „Sex machine“ – und mit ihr die Konzerte – pflegt er schon seit Jahren um punkt Mitternacht abzuschalten. Gelungenes Timing ist für geborene Entertainer noch immer der Schlüssel zum Erfolg. Satte vier Stunden hat James Brown zu diesem Zeitpunkt ein aus Endzwanzigern und Endvierzigern kompliziert gemischtes Publikum zusammen mit den Motown-Legenden „The Supremes“ und „The Temptations“ unter Spannung gehalten.

Der Ausstieg Diana Ross' bei den Supremes, die häufigen Line-up-Wechseln bei den Temptations, ihre halbgaren Auftritte in deutschen Provinzdiskos, fast Jahr für Jahr, und der eine oder andere Knast-aufenthalt Browns, mal wegen Drogen, mal wegen Prügeleien mit Ehefrau Adrienne, beweisen: Hier hat man es mit Persönlichkeiten zu tun, die Geschichte auf ihrem Buckel mit sich tragen; und auf ihrem Bauch. Ist es Streß- oder Glücksfett, das diese Sänger und Sängerinnen in schwarzen BH's verstauen mußten oder unter weißem Jackett begruben? Und seit den Blues-Brothers-Filmen ist James Browns Kinn noch ein Stück weit halsloser ans Brustbein gerutscht.

Doch egal, die Motown-Maschinerie schnurrt 39 Jahre nach ihrer allerersten Single mit dem bezeichnenden halb zynischen, halb daseinsbejahenden Titel „Money“ von Barrett Strong (“The best things in live are free/ but I want money/that's what I want“) jedenfalls immer noch erstaunlich lebendig – wie so mancher alte Cadillac oder Dodge aus Motown-City Detroit. Fünf Bläser zelebrieren sämtliche Formen des Blasens, vom knappen, aggressiven Zwischen-shout über zartes Harmonienunterfutter bis zum expressiv-delirantem Meistersolo. Und keine Spice Girls oder keine Boy-Group kann mit diesen Alten mithalten, wenn es darum geht, über die Leadstimme rückenhaarerschaudernd drüberwegzusingen oder die Einzelstimme von der Gruppe davonfliegen zu lassen, um später wieder zurückzugleiten. Und so manche Prince-Uniformen sind gegen die glitzernde Lurexbauschungen der Musiker fast altmodisch. Sowohl die Supremes als auch die Temptations zeigen außerdem die Kunst alterskompatibler Gruppenchoreographie. Die einen wiegen sanft die Hüften, die anderen geben mit den Armen fluglotsenartige Zeichen. Und manchmal stecken sie nicht unironisch wie Charlie Chaplin eine Wade nach hinten: Musikalische Energie hat eben offensichtlich nichts mit Alter und Sportlichkeit zu tun. Und deshalb ist auch Browns Back-vocals-Chor bestückt mit stämmigen Heroinnen in rührend engen Hosenanzügen.

„Hörst Du diese genialen Stimmen“, flötet ein Youngster ins Handy – und reckt sein Kommunikationsinstrument in die graue Luft der schmucklosen Halle. Ein anderer erzählt, er habe die Supremes im Plattenschrank der Mami entdeckt: „Die hatten damals noch nicht diese zur Schau getragene, künstliche Rotzigkeit von TicTacTo, konnten aber besser singen.“ Die sporadischen Versuche, immer wieder mal ein Motown-Revival auszurufen, scheinen also nicht ganz chancenlos. Doch mit mäßiger Lautstärke und schlaftablettig lila-rot dahindümpelnder Lichtanlage sprechen die Veranstalter eher die gehobenen Semester des Studiengangs Leben an. Wahrscheinlich wird man also doch den Tod James Browns abwarten müssen, damit die Welt begreift, daß in diesen gepflegten Entertainmentgebahren der Motown-Legenden nicht weniger Energie steckt als in den rüpelhaften Rockattitüden der Stones. Ach ja, um kurz vor 10 Uhr sangen die Temptations „My Papa was a Rolling Stone“.

Wo sind dann bitteschön deren Söhne? bk