Zum Schluß noch drei Minuten

Heute beginnt der Countdown für das olle 20. Jahrhundert: Jede Woche ein Videoclip über Jahrhundertbegriffe, und am Ende sind's „100 Worte, 100 Jahre“ auf 3sat  ■ Von Jörg Magenau

„Bin ich froh, wenn das 20. Jahrhundert endlich vorbei ist“, schreibt Andreas Neumeister in seinem jüngsten Roman „Gut laut“ gut gelaunt: Vorwärts ins nächste Jahrtausend, denn Nullerjahre klingt gut!

Die Abschiedsfreude bleibt die Ausnahme. Statt dessen dominiert am Jahrhundertende das herbstliche Bedürfnis nach melancholischer Rückschau. Da wird gesichtet und geordnet und sortiert, als hinge das Leben davon ab, und vielleicht ist es ja wirklich so. Gegenwart und Zukunft sind unübersichtlich genug, da sollen wenigstens die letzten 100 Jahre schön sauber in 100 Begriffe passen. Symmetrie beruhigt: Wenn man schon zwei Weltkriege und den Holocaust zu rekapitulieren hat, muß sich am Ende wenigstens eine runde Zahl ergeben, damit man auch was draus gelernt hat.

Heute beginnt 3sat in seiner „Kulturzeit“ mit der Ausstrahlung der „100 Wörter des Jahrhunderts“. Ob es um Energiekrise, Bikini oder Jeans, Werbung oder Perestroika, Pop oder Pille geht, es sind, so ein werbendes Leporello, „einhundert filmische Kurzessays, die das Lebensgefühl, Selbstverständnis – kurz: das Realitätsempfinden unseres Jahrhunderts einfangen und widerspiegeln“.

„Kurz: das Realitätsempfinden“ – das ist hübsch gesagt und spiegelt den Größenwahn des Unternehmens wider, dessen man sich bei 3sat wohl bewußt ist. Realität ist ja bekanntlich komplex und stellt sich von Mensch zu Mensch höchst unterschiedlich dar. Deshalb betont 3sat auch, was die Reihe (pro Woche sollen bis Ende 1999 zwei Kurzessays in der täglichen „Kulturzeit“ um 19.20 Uhr ausgestrahlt werden, bis die 100 voll ist) alles nicht sein will: keine chronistische Abarbeitung von Schlagwörtern und nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit oder Ausgewogenheit operierend. Es wird ja auch niemanden geben, der im Lauf des Jahres 1999 alle 100 Folgen sieht und daraus kanonische Ansprüche ableitet. Schwieriger allerdings, wenn die Begriffe dann auch in der Süddeutschen Zeitung essayistisch bedacht, vom Deutschlandradio versendet und schließlich als Suhrkamp Taschenbuch gesammelt erscheinen.

Spätestens dann wird man fragen müssen: Wer ist „wir“? Wessen Jahrhundert ist „unser Jahrhundert“? Um es einzugrenzen, wurde von 3sat eine siebenköpfige Jury installiert. Die Jury ist deutsch, männlich und eher alt. Ausnahmen – entsprechend dem Sendegebiet: der Literaturwissenschaftler Peter von Matt (Schweiz), Sigrid Löffler (österreichische Frau) und Friedrich Küppersbusch (relative Jugend). Daneben wählen Johannes Willms (SZ), Hans Helmut Hillrichs (ZDF), Friedrich Dieckmann (deutscher Osten) und unvermeidlicherweise Walter Jens die 100 Jahrhundertwörter aus. Bisher hat man sich erst auf 30 geeinigt, die komplette Liste soll während eines Symposiums der „Gesellschaft für deutsche Sprache“ am 13. Dezember bekanntgegeben werden, wenn das sorgenreiche Tagungsthema lautet: „Die deutsche Sprache vor der Jahrtausendwende: Sprachkultur oder Sprachverfall?“

Doch was läßt sich jenseits von Kongressen in drei Minuten über, sagen wir, „Psychoanalyse“ sagen und zeigen? Denn 3 Minuten sind das TV-Jahrhundertformat, an das auch 3sat sich hält. Zu sehen sind in diesem flackernden Videoclip viele wackelnde Freudköpfe, Kinderaugen, Puppen, Wasser, ein Vulkanausbruch, Keller voller Fässer, ein Säugling mit buntem Spielzeug, rote Turnschuhe, immer wieder der Freudkopf und als Schlußbild eine brennende Fackel. Zuvor erfuhr man bereits, daß es sich bei Psychoanalyse um Tiefenpsychologie handelt, daß viel von Mama und Papa geredet wird, daß Psychoanalyse ohne den Witz ein Irrtum wäre, und schließlich die Botschaft: „Wir sind nicht Herr im eigenen Hause, eine unangenehme Nachricht aus der Garküche des Unbewußten.“ Noch Fragen?

Ein anderer Clip behandelt den Begriff „Automatisierung“ und verwurstet so ziemlich alles, was irgendwie mit Maschinen zu tun hat – vom Fließband über Arbeitslosigkeit bis zum Technoschuppen und liefert dazu die Erkenntnis: Automatisierung produziert Masse, ob bei Waren oder Erlebnissen. Ob das so genau stimmt, spielt keine Rolle, das Gegenteil stimmt ja vielleicht auch.

Wird am Ende irgend jemand klüger sein als zuvor? Mehr als flott geschnittene Assoziatiönchen sind in drei Minuten sowieso nicht zu erwarten. Das Jahrhundert als Häppchen zwischendurch, Aufklärung im MTV-Format für aufgeklärte „Kulturzeit“-Seher, und die „neue Mitte“ stellt sich dann das Buch dazu ins Regal: Das sagt eigentlich alles über dieses Jahrhundert kurz vor seinem Ende. Bin ich froh, wenn das 20. Jahrhundert endlich vorbei ist. Wollen wir wetten, daß Michael Naumann das Vorwort dazu schreibt?