"Demokratie ist nicht ansteckend"

■ Ein Gespräch mit Anetta Kahane über die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland-Ost, die dort gegründete Amadeu Antonio Stiftung und darüber, warum in Deutschland auf soziale Spannungen fast immer ethnisch-ra

taz: Ist es nicht arrogant, speziell für Ostdeutschland eine Stiftung zu gründen, die den Menschen demokratische Umgangsformen beibringen soll?

Anetta Kahane: Wieso arrogant? Deutschland leistet sich, daß sich Leute mit nichtarischem Aussehen auf einem Drittel seines Territoriums nicht frei bewegen können. In Ostdeutschland sind Milliarden für Straßen, Laternen und Infrastruktur ausgegeben worden. Aber für den Aufbau von Zivilgesellschaft ist so gut wie nichts getan worden. Im Gegenteil. Wenn sich jemand überlegen müßte, wie man es anfängt, daß es ganz schlecht aussieht für Ausländer, Minderheiten und couragierte Demokraten, dann hätte er genau das getan, was hier in den vergangenen Jahren passiert ist.

Sie meinen, nach der Wiedervereinigung gab es keine demokratische Entwicklung?

Die Wiedervereinigung stand unter ethnischen Vorzeichen. „Wir sind eine Volksgemeinschaft und wiedervereinigen uns“, hieß es. Der Westen hätte auch die Vorgabe machen können: „Wir sind ein Staatsvolk, zu dem auch sieben Millionen Leute mit nichtdeutscher Herkunft gehören. Und mit denen habt ihr euch gefälligst auch wiederzuvereinigen.“ Das aber hat die Politik unterlassen. Im Osten hat der Stil der Wiedervereinigung die vorhandenen Minderwertigkeitsgefühle noch verstärkt. Als Reaktion darauf gewann das national Ethnische zusätzlich an Bedeutung. Denn während der Arbeitsplatz und die eigene Biographie plötzlich unsicher wurden, erschien Deutschsein den Leuten als etwas Sicheres.

Wurden rassistische Übergriffe ausreichend verfolgt?

Die Erfahrung von 1991 bis 1993 zeigt: Rassistische Übergriffe wurden kaum geahndet. Statt dessen gewannen sie massiv Einfluß auf die Politik, deren Signale ausschließlich auf Restriktion und Kriminalisierung von Ausländern schließen lassen konnten. Also Gewalt lohnte sich.

Was meinen Sie damit konkret?

Zum Beispiel hat die Änderung des Asylgesetzes hier ganz fatale Spuren hinterlassen, weil sie als Folge der Pogrome von Rostock erschien. In Deutschland wird auf soziale Spannungen fast immer ethnisch-rassistisch reagiert. Das als normal anzusehen ist pathologisch.

Zivilgesellschaft baut auf mündigen und selbstbestimmten Bürgern auf. Aber die Ostdeutschen fühlen sich dauernd vom Westen bevormundet. Ist es nicht ein Paradox, ihnen jetzt auch noch Zivilgesellschaft beibringen zu wollen?

Nein. Ich bin übrigens selbst aus dem Osten. Außerdem ist Demokratie nicht etwas, was man mit der Muttermilch oder per Beschluß als Fähigkeit mitbekommt. Demokratie ist auch nicht ansteckend. Sie muß geübt werden. Das gilt sicherlich auch für andere osteuropäische Länder. Doch während sich der Westen für Autobahnen und Wirtschaftsansiedlungen engagiert, fühlen sich weder die Bundesregierung noch die zivile westdeutsche Gesellschaft für den Aufbau von Zivilgesellschaft zuständig. An der Stelle will man mal nicht der „Besserwessi“ sein – ausgerechnet da nicht!

Wie kann denn der Aufbau von Zivilgesellschaft im Osten konkret aussehen?

Der zentrale Punkt von Zivilgesellschaft, ja von Demokratie überhaupt, ist doch: Alle Menschen sind unterschiedlich und gleichwertig. Minderheitenschutz ist nicht ein Inhalt oder Hobby unter vielen, für das man sich engagieren kann oder nicht. Ob Kultur, Wirtschaft oder Sport – überall sollte dieser zivilgesellschaftliche Grundsatz wie eine Begleitmelodie mitlaufen. Wenn zum Beispiel Unternehmer sagen würden, sie investieren nirgends, wo es rechtsradikale Übergriffe gibt und bestimmte Menschen ausgegrenzt werden, würde sich in den betroffenen Kommunen etwas ändern.

Sie setzen also auf moralische Einsicht?

Die Motive für eine zivile Haltung müssen nicht unbedingt moralisch sein. Wenn es der Tourismuszentrale nur um das gute Image der Stadt geht, ist das okay – wenn sie dafür sorgt, daß sich ausländische Besucher sicher und willkommen fühlen. Längerfristig wird dann auch wirken, was die Pädagogik als kognitive Dissonanz bezeichnet und gezielt einsetzt. Wenn man Leute zwingt, in gewisser Weise zu handeln, sagen wir mal, indem sie Minderheiten schützen, werden sie nach einer Weile ihr Denken an ihr Handeln anpassen, denn sonst kommen sie innerlich dauernd in Rechtfertigungsdruck. So hat auch die Demokratisierung der alten Bundesrepublik funktioniert.

In vielen Kommunen gibt es eigentlich kaum Ausländer.

Das stimmt. Aber es ist inzwischen so, daß auch solche Jugendliche total unter Druck stehen, die eine liberale Haltung vertreten. Sie werden beschimpft, gemobbt und schlimmstenfalls auch zusammengeschlagen. Sie stehen oft vor der Alternative: wegziehen, Klappe halten oder dem Druck nachgeben. Sie brauchen Schutz, Unterstützung und eine gesellschaftliche Heimat.

Ist es tatsächlich so katastrophal?

Es gibt Städte hier im Osten, wo Weggucken normal ist. Die Leute sehen das Hauptproblem nicht darin, daß es immer mehr Glatzen gibt, sondern daß darüber geredet wird, daß es sie gibt. Sie jammern darüber, ihr Ort werde stigmatisiert, anstatt was gegen den Anlaß zu tun. In Belzig oder Eberswalde kämpfen inzwischen Bürgerinitiativen für eine zivilgesellschaftliche Haltung in ihren Städten. Eine solche Haltung muß von der kommunalen Umgebung geschützt werden. Wenn zum Beispiel eine Austauschklasse kommt, müssen ausländische Kinder oder Jugendliche mit bunten Haaren sicher sein, daß die Gesellschaft sie willkommen heißt – und schützt.

Was will die Amadeu Antonio Stiftung konkret tun?

Es geht uns darum, Initiativen in den Kommunen mit Beratung, Vernetzung und Geld zu fördern. Zum Beispiel bei Jugendprojekten, denen wir bei der Entwicklung eines attraktiven Angebots helfen. Grundsätze sind: Jeder, der mitmachen will, ist willkommen. Minderheiten sind akzeptiert. Angst machende Neonazikleidung gibt es nicht und auch keine Nazilieder.

Gibt es schon positive Beispiele von Initiativen?

In Schwedt gibt es ein Jugendkulturbüro, das von Jugendlichen völlig ohne Erwachsene initiiert, organisiert und geleitet wird. Die machen HipHop-Konzerte und alle möglichen Veranstaltungen. Oder in Milmersdorf in der Uckermark will ein Sozialarbeiter italienischer Herkunft mit Jugendlichen einen alten Bus anschaffen, den sie instandsetzen. Dabei erwerben sie sich berufliche Teilqualifikationen als Schlosser oder Mechaniker. Das Projekt soll anschließend weitergehen: Wenn der Bus wieder flott ist, wollen die Jugendlichen nach Indien fahren und bei Kalkutta eine Brücke aufbauen. Leute von dort sollen dann auch in die Uckermark kommen. Es gibt auch Überlegungen, daß der Bus als Dienstleistung für andere Jugendliche in Brandenburg eingesetzt wird, zum Beispiel für den sicheren Heimweg nach der Disco, bei dem sich zur Zeit an jedem Wochenende mehrere Jugendliche in Brandenburg totfahren.

Welche Unterstützung braucht die Amadeu Antonio Stiftung?

Wir wollen mehr von solchen Projekten. Wir wollen Initiativen unterstützen und Partner der Kommunen sein. Dafür braucht man Geld – zum Beispiel für Kopierer, Telefoneinheiten und mobile Beratungsteams. Die sollen in jedes Dorf gerufen werden können. Denn um das beharrliche Schweigen der Mehrheit über Rechtsextremismus im eigenen Ort zu brechen, braucht es manchmal einen Anstoß von außen. Und wir wollen die Leute professionalisieren, die mit Jugendlichen arbeiten. Heute sind das oft ABM- Kräfte, die von Jugendarbeit keine Ahnung haben. Die sind bei einer Konfrontation mit dem glatzköpfigen Nachbarssohn völlig überfordert oder sehen manchmal selbst im „Deutschsein“ die Lösung ihrer Probleme. Außer finanzieller Unterstützung geht es uns auch um Kontakte. Es wäre toll, wenn zum Beispiel mehr Künstler aus dem Westen herkämen. Und wenn mehr Leute aus Ost und West die engagierten Leute vor Ort fragen würden, welche Unterstützung sie brauchen. Interview: Annette Jensen

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