Schamane der guten Laune

Mit „Einer flog über das Kuckucksnest“ hat Ken Kesey bewiesen, daß er einen Roman schreiben kann. Irgendwann hat er nicht mehr geschrieben. Heute denkt er über interaktive Kunst und das Gnomenbusiness nach. Ein Besuch auf Ken Keseys Hippiefarm  ■ Von Volker Weidermann

Der Roman ist am Ende, aber die Reise geht weiter: Von Whoozlen, Legenden, ritueller Wirklichkeit und Ken Keseys größtem Kunstwerk. Ringsum sind Felder, gelbe Felder, einige Obstbäume und die Kaskadischen Berge in der Ferne. „Beim Känguruh-Schild rechts rein“, meint Ken Kesey am Telefon. „Wir wohnen in einem Stall.“

Dieser „Stall“ ist ein rotes, altes Landhaus in der Mitte von Nirgendwo. Das untere Stockwerk besteht aus einem einzigen Saal in dunklem Holz, mit riesig großen Fenstern. Man schaut das erste Football-Match der Saison. Die kleine Gruppe läßt sich nicht stören. Es sind Hippieveteranen der ersten Stunde da, Freunde Keseys aus Los Angeles und zwei Studenten aus Pennsylvania, die Kesey mal in einer Kneipe kennengelernt haben und jetzt das Wochenende hier verbringen. Es gibt irischen Whiskey aus der Flasche. Kesey erklärt, daß Schnaps „spirit“ heißt, weil er den Iren früher als Reisemittel für Geister galt, als eine Art Rutschbahn, auf der alle möglichen Elfen und Gnome in die Köpfe der Menschen reisten. Ansonsten schauen wir das Spiel schweigend und trinkend an.

Ken Kesey ist eine lebende Legende: Der größte Hippie Amerikas, heißt es, Vater der Gegenkultur, Drogenguru und früher mal ein großer Autor. Als Fünfundzwanzigjähriger feierte er 1962 mit seinem Roman „Einer flog über das Kuckucksnest“ ein sensationelles Debüt. Zwei Jahre später ließ er den kaum weniger erfolgreichen Roman „Manchmal ein großes Verlangen“ folgen. Dann schrieb er lange nichts mehr. Hatte ein großes Leben statt dessen: Gründete die kalifornische Hippiekommune „Perry Lane“, machte Musik mit seinen Merry Pranksters und den Grateful Dead und nahm an den ersten staatlichen Testprogrammen für LSD teil, bei denen er so revolutionäre und neue Erfahrungen machte, wie sie ihm keine Literatur und keine Musik zuvor vermitteln konnten. Die USA hatten schon bald genug LSD getestet, da hatte Kesey aber inzwischen sein privates kleines Drogenprogramm laufen. Teile von „Kuckucksnest“ sind bereits im LSD-Rausch geschrieben.

Und dann war da die Bustour. Diese legendäre Bustour von 1964, die Tom Wolfe, der mit auf Reisen war, in seinem Klassiker „Die Helden der Nation“ beschrieben hat, und die die Jugend eines ganzen Landes und später auch weiter Teile der westlichen Welt in neue, unerforschte Gebiete aufbrechen ließ. Im Kopf und in der Wirklichkeit. Motto der Reise: „Move out to ... Edge City“. Name des mit bunten, psychedelischen Zeichnungen bedeckten Schulbusses, mit dem sie unterwegs waren: „Furthr“. Am Steuer: Neil Cassady, Reisename: „Speedlimit“. Unbestrittener Boss der Gruppe: Ken Kesey. Es war die Fahrt, mit der die Sixties auf den Weg gebracht wurden.

Als das Footballspiel vorbei ist, murmelt Kesey: „Jetzt mache ich den Bus mal klar.“ Und er schlurft über den Hof zu einer großen alten Scheune, öffnet das Tor – und da steht er: Furthr, die Buslegende, die Sixties auf Rädern, groß, bunt, frisch bemalt. Wenn man Kesey fragt, was sein größtes Kunstwerk sei, sagt er: der Bus. Er wirke sofort, die Menschen seien gleich begeistert, wenn sie ihn sähen, vor allem Kinder freuen sich. Kesey fährt auch heute noch mit Freunden, die von damals geblieben sind, manchmal mit dem Bus auf Tour und macht Musik mit seinen Merry Pranksters. Neuerdings haben sie eine kleine Radiostation im Bus. Damit können sie ihr eigenes Radioprogramm live auf der Straße produzieren. Im Bus ist alles vorhanden: Mischpult, Boxen und Aufnahmegeräte. Sie halten dann ein Schild aus dem Fenster: „Tune in 105.7“, und die Leute auf der Straße können alles mithören. „Ist das nicht großartig?“ fragt Kesey. „Da können wir auch vorlesen und Proklamationen verlesen. Ohne aufwendigen Druck und Verträge. Direkt in die Welt.“ Das konnten sie damals noch nicht, auf ihrer ersten Reise. Aber sie haben mitgeschnitten. Gerade sind einige Originalaufnahmen der Reise auf CD erschienen. Kesey spielt sie mir in seinem kleinen Tonstudio vor. Ich verstehe ehrlich gesagt nur wenig, aber er sitzt und hört so verzückt und selig zu, und manchmal kommen ihm die Tränen vor Lachen. Es war seine große Zeit.

Heute ist Ken Kesey ein alter Mann. Jahrzehntelanger Drogenkonsum und ein leichter Schlaganfall vor einigen Monaten haben ihre Spuren hinterlassen. Das weiße Haar wirkt ausgerupft, die Bewegungen sind langsam, aber seine Augen sind ungemein flink und lustig. An dem Nachmittag, den ich auf seiner Farm verbringe, ist er voller Aktionsdrang. Ständig fallen ihm Sachen ein, die er mir zeigen will, oder irgendwas, bei dem ich ihm helfen kann. Erst versuchen wir also Furthr in Gang zu kriegen. Das klappt leider nicht. Dann fahren wir Traktor zusammen, und ich schöpfe mit einem Eimer Wasser aus einem großen Becken auf dem Anhänger und wässere seine Obstbäume am Rande der Felder. Auf dem Rückweg freut er sich schon: „Und jetzt sehen wir nach dem Whoozle.“

Es steht ein Schild auf einer Wiese mit der Aufschrift: „Beware! Whoozle!“ An dieser Stelle beugt sich Kesey tief herunter und ruft in ein kleines Erdloch hinein: „Hey, Whoozle, melde dich! – Whoozle, hallo! – Hey, Whoozle, wir haben Besuch!“ Und er legt sein Ohr ans Erdloch und lauscht. Dann ruft er mich: „Er ist da, er lacht, er hat gute Laune.“ Und ich beuge mich also auch herunter, lausche, und tatsächlich: Es lacht im Erdreich ganz tief unter mir. Es lacht und gluckst und räuspert sich. Kesey äußert dann noch mehrfach den Wunsch, das Whoozle möge doch heraufkommen zu uns. Doch es kommt nicht und bald schon kann man es schnarchen hören, ganz, ganz tief. – Schamanismus der guten Laune. Unerklärlich, heimlich, heilig. Ob er das Whoozle schon einmal gesehen hat? Nein, bislang noch nicht. Es ist sehr scheu.

Dann trinken wir wieder Whiskey und versuchen, Furthr zu starten, was nicht klappt, und schneiden Brombeerhecken, von denen Kesey weiß, daß sie erst vor hundert Jahren gezüchtet wurden. Er meint, hätte es die hier schon vor 500 Jahren gegeben, dann hätte man Amerika nicht besiedeln können. So gut wachsen die Brombeeren hier. Kesey macht jedes Jahr einen weithin berühmten Schnaps daraus. Ja, für solche Sachen ist Kesey jetzt eher bekannt: Schnapsbrenner, Farmer, Schamane. Ab und an ein Essay im New Yorker oder im Rolling Stone. Manchmal auch noch Geschichten: Nachdem er dreißig Jahre lang keinen Roman geschrieben hatte („Ich habe der Kulturindustrie bewiesen, daß ich Romane schreiben kann. Danach habe ich ihr bewiesen, daß ich sie auch nicht schreiben kann“), veröffentlichte er vor einigen Jahren „Sailor Song“, einen Roman, an dem er sich jedoch zehn Jahre lang quälte. Ansonsten schrieb er einen Western, ein Theaterstück, veröffentlichte Texte zusammen mit Universitätsklassen, die er im Kreativen Schreiben unterrichtete, und schrieb vor allem Kinderbücher. Warum Kinderbücher? „Damit erreiche ich das doppelte Publikum“, meint Kesey. „Erst die Eltern, die das Buch vorlesend prüfen, ob das auch etwas für ihre Kinder ist, und dann die Kinder selbst.“ Die sind ihm ohnehin die liebsten Leser. Und die Botschaft seiner Bücher sei ja auch immer dieselbe: „Totalitarismus in allen Erscheinungsformen und wie er überwunden werden kann.“ Das kann man in Kinderbüchern genausogut beschreiben. Eins davon nennt er heute sein gelungenstes Buch: Die Geschichte vom kleinen Eichhörnchen Tricker, das den Bären Big Double überlistet. „Viel besser als ,Einer flog über das Kuckucksnest‘, viel besser“, sagt Kesey und er strahlt.

Überhaupt: „Der Roman hat seine Zeit gehabt“, sagt Kesey. Es muß etwas ganz anderes kommen. Das interaktive Kunstwerk, das Kunstwerk der gemeinsamen Aktion, nicht der kontemplativen Rezeption. Der Schöpfungsprozeß als Gemeinschaftsprojekt. Ob er so etwas wie den Internetroman, an dem jeder mitschreiben kann, meint? – Ja, das sei eine gute Idee. Er aber, Kesey, sei mehr so im Elfen- und Gnomen- als im Computerbusiness. Nicht virtuelle, sondern „rituelle Wirklichkeit“, das ist sein Programm. Was das bedeutet? Ein neuer Sinn für Heiligkeit, für Ursprünglichkeit, für Geheimnisse. Ein Gemisch aus Indianermedizin, Schamanenglaube, fernöstlichen Religionen, Antipsychologismus und ritueller Lebensfeier.

Kesey bringt all das neuerdings mit seinem Trupp auf die Bühne. Musiktheater, das sei die zukünftige Kunstform. Und er zeigt Videomitschnitte: Das meiste entsteht spontan auf der Bühne, vieles gemeinsam mit dem Publikum. Den festen Rahmen bilden lediglich die Musikstücke und eine Geschichte, die vom nahen Weltenende erzählt. Der Rest ist gemeinsame Aktion.

Ein Hauch von Schlingensief weht da über die amerikanischen Bühnen. Nur daß alles besser gelaunt wirkt. Kesey muß die Leute nicht gewaltsam auf die Bühne zerren und dort verprügeln, um gemeinsames Erleben zu inszenieren. Die Leute kommen ganz von selbst. Musikanten oder Gaukler, Leute, die was zu dichten haben oder die originelle Verkleidungen vorstellen wollen und sich in eine größere Handlung gern einfügen. Im Film zumindest klappt das ganz wunderbar. Und am Ende tanzt Ensemble mit Publikum gemeinsam ausgelassen auf der Bühne. Nächstes Jahr will Kesey die ganze Show komplett mit Bus nach Europa bringen. Das ist noch so ein Projekt, von dem er stundenlang erzählen kann.

Spät am Abend gehen wir noch ein letztes Mal zu Furthr in die Scheune. Der Motor stottert und stottert und – läuft leider nicht. Kesey ist enttäuscht. Er hätte sein größtes Kunstwerk doch gern noch mal in Aktion gezeigt. Heute jedoch nicht. Aber morgen, morgen läuft er wieder und im nächsten Jahr sogar bis nach Europa. Denn: Der Roman ist wohl am Ende, aber die Reise geht weiter.