■ Die großen Kulturnationen Japan und die Volksrepublik China setzen inmitten der asiatischen Wirtschaftskrise auf Partnerschaft
: Ein Chinese in Tokio

Inmitten der Wirtschaftskrise, die Asien erschüttert, droht auch ein so bedeutendes Ereignis wie der erste Besuch eines chinesischen Staatsoberhaupts in Japan seit dem Zweiten Weltkrieg unterzugehen. In Indonesien begegnet das Militär der Krise mit Schüssen auf Studenten. In Japan sinkt die Popularität der Regierung auf ein Rekordtief. In der Volksrepublik China stagniert zum ersten Mal seit 20 Jahren das Wirtschaftswachstum. Doch all diese Ereignisse verblassen vor der Aussicht eines dauerhaften Friedens zwischen China und Japan.

Jiang Zemins Reise nach Tokio in dieser Woche markiert den Gegenbesuch zur Peking-Visite des japanischen Kaisers Akihito im Oktober 1992. Nie zuvor in der 2.000jährigen Geschichte ihrer Beziehungen haben Japan und China auch nur annähernd so intensive Regierungskontakte gepflegt wie heute. Die großen Kulturnationen Ostasiens sind dabei, nach hundert Jahren kaltem oder heißem Krieg eine Ära der japanisch-chinesischen Verständigung einzuleiten, deren Bestand für die Zukunft Asiens entscheidend sein wird.

Japaner und Chinesen haben allen Grund, aufeinander zuzugehen. Die Spannungen dieses Jahrhunderts verdecken, wie sehr beide Völker historisch voneinander profitiert haben. „Die Japaner hatten immer das Glück, von der chinesischen Kultur viele Dinge übernehmen zu können“, gestand Akihito, dessen Vater, Kriegskaiser Hirohito, noch von der Überlegenheit der japanischen Kultur und ihrer Herrenrasse geschwärmt hatte. Tatsächlich übernahmen die Japaner im Laufe der Geschichte Reiskultur, Sprache, Religion und Philosophie aus China. Der Beispiele finden sich unendlich: Sogar der längst mit Japan assoziierte Zen-Buddhismus stammt ursprünglich aus dem chinesischen Shaolin-Kloster am Gelben Fluß.

Doch auch die Chinesen haben von Japan gelernt, als viele Intellektuelle um die Jahrhundertwende vom Festland zum Inselreich übersetzten, um die Ideen der Moderne kennenzulernen. Heute findet der Austausch in sprachlicher Hinsicht statt: Fast das gesamte politische Vokabular Chinas – Demokratie, Sozialismus, Wirtschaft – stammt aus Japan.

An diesen segensreichen Austausch kann die neue Partnerschaft zwischen Peking und Tokio jedoch kaum noch anknüpfen. Zu tief klafft der Graben, der durch das japanische Massaker von Nanking im Jahr 1937, dem Massenmord an mindestens 200.000 Chinesen, symbolisiert wird. Eine fanatische Fortschrittsbegeisterung hatte im Japan der ersten Jahrhunderthälfte eine vernichtende Verachtung für das alte China ausgelöst. Dem folgte in der zweiten Jahrhunderthälfte Japans kalter Krieg gegen den chinesischen Sozialismus. Umgekehrt konstituierte sich in China seit der Mai-Bewegung von 1919 jeder Versuch der Modernisierung in Gegnerschaft gegen das vorauseilende Japan. Erst der Haß auf die japanische Invasoren ermöglichte Mao Tse-tung, das Land zu vereinen.

Was zwischen beiden Völkern bleibt, ist ein Klima der Verdächtigung, aber auch des gegenseitigen Respekts, der Bewunderung und der Herablassung, der Gemeinsamkeit und der Unvergleichbarkeit. Einerseits nähren die Chinesen immer wieder den Verdacht, Japan baue im stillen eine neue Militärmacht auf, andererseits bewundern sie Nippons technologische Erfolge. Umgekehrt betonen die Japaner immer wieder, wie eng ihre wirtschaftliche Zukunft mit Asien verknüpft ist, und fürchten sich zugleich vor der drohenden Übermacht Chinas im 21. Jahrhundert.

Doch aller Ambivalenz zum Trotz ist seit Beginn der neunziger Jahre ein Trend deutlich geworden: Um die wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Länder geht kein Weg mehr herum. China ist zum zweitgrößten Handelspartner Japans herangewachsen, das wiederum der größte Handelspartner Chinas ist. Mit einen Wert von derzeit 60 Milliarden Dollar im Jahr hat sich der Warenverkehr beider Länder seit 1991 verdreifacht. Das größte Entwicklungsland und das größte Industrieland Asiens ergänzen sich ökonomisch und benötigen einander.

Der Einfluß der Wirtschaft macht sich in beiden Gesellschaften bemerkbar. Schon laufen neben den allabendlichen antijapanischen Kriegsfilmen der kommunistischen Staatspropaganda die gerade populären japanischen Fernsehserien im chinesischen Fernsehen. Schon gehören der neue chinesische Film und die moderne chinesische Kunst zur Avantgarde in Tokio. Chinesische Geschäftsmänner, die aus Amerika zurückkehren, fühlen sich auf dem obligatorischen Zwischenstopp in Japan schon wieder fast zu Hause. Japanische Studenten aber zieht es nach China: 20.000 von ihnen studieren heute auf dem Festland, weit mehr als in Europa.

Der Politik sind damit nicht die Aufgaben genommen. Die Annäherung zwischen beiden Nationen ist keineswegs unumkehrbar: Noch immer werden japanische Schüler nicht ausreichend und zum Teil geradezu geschichtsverfälschend über die Greueltaten der kaiserlichen Armeen in China nach 1937 unterrichtet. Noch immer wissen die meisten Chinesen nichts von den Errungenschaften der japanischen Nachkriegsdemokratie und ihrer pazifistischen Verfassung. Manchmal schlägt der alte Haß neue Funken, wenn rechtsradikale Japaner und nationaltreue Hongkong-Chinesen sich auf einer von beiden beanspruchten Insel Bootsgefechte leisten. Nicht umsonst mußten die Japaner sechs lange Jahre warten, bis heute ein Chinese den Besuch des Tennos erwidert.

Derzeit aber laufen die Dinge in die richtige Richtung: Erstmals erkennt Peking offiziell an, daß Japan seit dem Krieg eine friedliche Entwicklung eingeschlagen hat. Zuvor sprach die chinesische Regierung stets nur von der japanischen Aufrüstung im Duett mit den Vereinigten Staaten. Auch werden die Wirtschaftsbeziehungen in China neu bewertet: Bisher waren die japanischen Aufbauhilfen für Peking nicht der Erwähnung wert, heute bedankt man sich dafür. Dem soll nun während des Besuchs von Jiang Zemin eine schriftliche Entschuldigung der Tokioter Regierung für die japanischen Verbrechen an Chinesen im Zweiten Weltkrieg folgen. Die großen Lücken in der Vergangenheitsbewältigung der Japaner werden auch damit nicht geschlossen werden. Doch die Chinesen haben sich entschlossen, pragmatisch zu sein. Sie legen damit die Grundlage für ein Friedenswerk, das – wenn es erfolgreich bleibt – der Bedeutung der deutsch-französischen Freundschaft für Europa nicht nachstehen wird. Georg Blume