Die Angst vor dem Stillstand

Die französischen Eisenbahngewerkschaften protestieren auch gegen die befürchtete Zerschlagung ihrer Staatsbahn. Droht ein neuer Großstreik?  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

In Frankreich geht die Angst vor einem neuen großen Streik um. Drei Jahre nach dem über dreiwöchigen Stillstand des öffentlichen Dienstes blieb gestern wieder mindestens die Hälfte aller Züge in den Bahnhöfen. Der gestrige Streik war zwar Teil eines gesamteuropäischen Protestes, der auf einen Tag befristet war, doch kündigten alle großen französischen Eisenbahngewerkschaften bereits eine Fortsetzung für Ende dieser Woche an.

Letztlich ausgelöst wurde der Euro-Streik durch eine Initiative von EU-Transportkommissar Neil Kinnock, der Privatunternehmen Zugriff auf den Schienentransport gewähren will. Neben den europäischen Gründen zum Streik haben die französischen EisenbahnerInnen aber zahlreiche nationale Argumente. Nachdem ihre bereits kurz vor der Fußball-WM laut gewordenen Proteste gegen die massive Mehrarbeit damals kurzfristig unter den Teppich gekehrt wurden, verlangen sie jetzt 5.000 zusätzliche Arbeitsplätze. „Die Einnahmen und der Transport der SNCF [der französischen Eisenbahngesellschaft] steigen ständig, aber die Lohnmenge verändert sich nicht im geringsten“, begründet Didier Le Reste von der CGT, der stärksten Gewerkschaft der EisenbahnerInnen, den Unmut.

Obwohl der französische Transportminister Jean-Claude Gayssot, Kommunist und ehemaliger Eisenbahner, versprochen hat, er werde kein „Privatisierungsminister“ werden, geht in der SNCF eine schleichende Privatisierung vonstatten. Das Unternehmen ist bereits 1997 in eine Betreibergesellschaft des Schienennetzes (RFF) und in die Netznutzerin, die SNCF, aufgeteilt worden. Die RFF übernahm praktischerweise neben dem Schienennetz einen großen Teil der Schulden des Unternehmens.

Weiterer Teil der umstrittenen Zerschlagung der französischen Staatsbahn ist ihre Regionalisierung. Bislang wird sie in sechs Regionen erprobt, ab dem Jahr 2000 soll sie landesweit ausgedehnt werden. Die Regionalverwaltungen sollen anschließend die finanziellen Entscheidungen über Anschaffungen, Neubauten und Wartungen fällen. EisenbahnerInnen befürchten, daß so die Schienennetze vor allem in den ärmeren Regionen schrumpfen werden. „Dann werden teure private Busse eingesetzt, die nur an Werktagen und da auch nur noch frühmorgens und spätnachmittags verkehren“, beschreibt ein Gewerkschafter die Tendenz. „Arbeitslose und Rentner in der Provinz kommen dann überhaupt nicht mehr vom Fleck.“

Ein weiterer Grund zum Protest ist die wachsende Zahl von tätlichen Angriffen auf EisenbahnerInnen – besonders in den Vorortzügen der großen Städte. Auch um die Sicherheit auf den abends und an den Wochenenden verwaisten Bahnhöfen zu erhöhen, verlangen die Eisenbahner Neueinstellungen. Dem nationalen Streik vorausgegangen ist ein über zweiwöchiger EisenbahnerInnenstreik in Marseille, der am Sonntag erfolgreich zu Ende ging. Die Direktion mußte Neueinstellungen zustimmen.

Die hohe Streikbereitschaft in Marseille und die relativ hohe Streikbeteiligung gestern haben bei der rot-rosa-grünen Regierung, die entgegen ihren Wahlversprechungen bislang mehr Staatsbetriebe privatisiert hat als jede konservative Regierung zuvor, für Unruhe gesorgt. Auch 1995 war die Protestbewegung von den Eisenbahnern ausgegangen. Nach einigen Streiktagen waren damals eine knappe Million Menschen auf der Straße und verlangten den Rücktritt des Premierministers. Ein gutes Jahr später erlitt der Neogaullist Alain Juppé die härteste Wahlniederlage der französischen Konservativen überhaupt.