Virtuosen der Verstellung

■ „Catch Cup 98“, der besondere taz-Kultur-Tip: In der Messehalle 6 tanzen fünfzehn Wrestling-Kolosse den Bären

Simulation: Eine zutiefst verfemte Angelegenheit, nicht erst seit der griesgrämigen Zivilisationskritik Jean Baudrillards. Dabei bewahrt zum Beispiel die Simulation von Brechdurchfall ganze Generationen junger, hoffnungsfroher Menschen vor unredlichen Dingen wie Militärdienst und Matheexamen; und mehr denn je fordern die Personalbüros dieser Welt bei der Vergabe von Posten die Simulation von Auslandserfahrung, Unerschütterlichkeit und Schlafverzicht. Hiermit ist bewiesen: Ohne die Kunst der Verstellung ist ein Überleben in Würde und Anstand, oder sollte man sagen: in Frieden und Reichtum, nicht denkbar. Fünfzehn Meister des Fachs sind derzeit in der Messehalle zu bewundern. WCW (World Champion Wrestling), WWF (World Wrestling Federation) und die in Bremen agierende alterwürdige CWA unterliegen leider dem Mißverständnis, daß Lügen nur funktionieren, wenn sie bedingungslos geglaubt werden. Doch wenn Lügen eine Kunst ist, dann macht es gerade Spaß, ihre Finten und Fallstricke kennerhaft zu begutachten. Trotzdem bemühen sich unsägliche Wrestling-Moderationen bei RTL und Eurosport, dem Zuschauer, die Sinne zu vernebeln. Warum eigentlich? Kein Ballettintendant versucht uns einzureden, Romeo- und Juliatänzer würden ganz-ganz ehrlich im Spitzentanz vor Liebe vergehen. Das Leben ist ein Spiel, na und?

Als Strafe für solche Unredlichkeit verlieren sich fünf Wochen lang abend für abend in der riesigen Halle 6 gerade mal 100 bis 200 Menschen zu sechs 5x4-minütigen Kämpfen um Sätze folgenden Typs zu brüllen: „Ja, Du schaffst es“ oder metaphorisch versierter: „Du kämpfst ja wie ein ausgelutschter Pariser“, aber auch mal ganz direkt: „Mach ihn zur Frau, Ecki“. Wobei bei letzterem Satz als Täter der erwünschten Kastration Christian Eckstein angedacht ist, Heimatstadt Nürnberg; Lieblingsort Hawaii; als Opfer dagegen ein gewisser Rico de Cuba, Heimatstadt: Havanna; Lieblingsort: Havanna; derzeitiges Auto: ein amerikanischer Chevrolet; unangenehmster Mensch trotzdem: Clinton; unangenehmste Sache aber: Revolution (laut Catch-Cup-Programmheft). Doch nicht die Kampfesleistungen der Athleten sind bewunderungswürdig. Bemerkenswert sind vielmehr ihr Gauklerkünste. Fallbeispiel Nr.1: A liegt am Boden. Seine Hilflosigkeit scheint B rasend zu machen. Die geballte B-Faust drischt er auf den A-Schädel ein. Höchstens eine Sekunde dauert die ungezügelte Gewalttat. Doch was muß dabei alles beachtet werden? Die B-Faust muß in Millimeterpräzisionsarbeit an den A-Haarspitzen vorbeisausen. Vor Bodenkontakt sollte die B-Faust aus Gründen des Selbstschutzes ebenso blitzschnell wie unauffällig abgebremst werden. Gleichzeitig hat sich ein Glitzern des Triumphes in den B-Augen einzustellen; obwohl deren Besitzer nach tagelangem Turnieralltag sicherlich strunzlangweilig ist. Runzeln des Schmerzes müssen hingegen auf der A-Stirn erscheinen. Und das, obwohl A gar keinen Schmerz spürt. Fallbeispiel Nr.2: A tut so, als wolle er einen Knoten aus einer B-Fußspitze schnüren. Dazu müssen sämtliche A-Armmuskelstränge anspannen, ohne jedoch eine Kraft auf das B-Bein auszuüben. Dieses Bein muß wie ein Gefangener in Ketten zappeln, obwohl ihn nichts richtig festhält. Mit anderen Worten: Die Muskulatur muß sich jenseits der harten Notwendigkeiten einer grausamen Wirklichkeit spannen, dehnen, verkrampfen. Das erinnert an die Meisterschaft buddhistischer Mönche, die ihre Herzmuskulatur allein durch die unbändige Kraft des Willens zu steuern verstehen. Und wie schwierig muß es erst sein, den Geg-ner vom Ringseil aus mit der Wucht eines Tigers anzuspringen, wenn der Hinterkopf weiß: dieser Gegner weicht aus wie vorher abgesprochen; deshalb gilt es, rechtzeitig die Abfederung der Bauchlandung einzuleiten.

Wenn unsereins nachts vor der Disko einen fiesen Pöbler in einer alttestamentarischen Auge-um-Auge-Reaktion niedersticht, so ist dies Instinkt. Außerdem eine Dummheit, für die man verknackt wird. Wenn ein Catcher dagegen rot sieht, frei aus dem Stand, ohne vorher gereizt worden sein, dann ist das Kunst - und die Kunst bewußter Steuerung, also Zivilisation, auch wenn es nicht immer danach aussieht. Außerdem kann man sich über Haß, Agression und den hemmungslosen Triumph des Stärkeren freuen, ohne daß hinterher jemand dafür mit Gefängnis büßt. Dieses Erlebnis höchster Performancekunst wird noch bis zum 18. Dezember geboten. bk

Eintritt: 32 Mark, montags (Damentag) und donnerstags (Herrentag) : 8 Mark